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"Es geht uns gut"

11. November 2003

- Interview mit dem estnischen Oberrabbiner Shmuel Kot

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Tallinn, 6.11.2003, EESTI PAEVALEHT, estn., S. 7

Estlands Oberrabbiner Shmuel Kot hat in einem Interview erklärt, der offene Brief, den die russische Jüdische Gemeinde an den Premierminister Israels Ariel Scharon gerichtet habe (siehe MD-Dokumentation vom 4.11.2003), stütze sich nicht auf Fakten und könne den estnischen Juden mehr schaden als nützen. Die Jüdische Gemeinde Russlands hatte den israelischen Premierminister Ariel Scharon darum gebeten, dabei zu helfen, die estnischen und lettischen Juden zu schützen. Anlass für den Protestbrief, der Scharon in Russland übergeben wurde, waren die in Lettland und Parnu (West-Estland - MD) geplanten Denkmäler, die die Repräsentanten der russischen Juden als Rehabilitierung des Nazismus betrachten.

Den Juden geht es in Estland gut

(Frage) Die Jüdische Gemeinde Russlands bat den israelischen Premierminister Ariel Scharon, Schritte gegen Estland und Lettland zu ergreifen, "wo der Nazismus rehabilitiert wird". Sie haben diese Äußerungen zurückgewiesen. Warum?

(Kot) Wir haben es getan, denn wir wurden nicht gefragt. Mein Ziel als Rabbiner ist, mit den Juden zusammenzuarbeiten und den Einfluss der jüdischen Religion in Estland wieder herzustellen. Damit bin ich sehr beschäftigt. Mit Politik habe ich nichts zu tun. Jetzt habe ich aber beschlossen, mich den Äußerungen der Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Estlands, Cilja Laud, anzuschließen. Was in dem Brief an Ariel Scharon steht, stimmt nicht. Außerdem kann so ein Brief zu einer unfairen und negativen Haltung gegenüber den estnischen Juden führen.

(Frage) Hat es denn irgendeine Reaktion auf den Brief oder auf Ihre Erklärung gegeben?

(Kot) Die Tatsache, dass Sie hier sind, ist eine Reaktion. Uns geht es in Estland gut. Als Jude lebt man hier wie alle anderen. Wenn ich zu Stockmann (Kaufhaus - MD) oder zum Citymarkt (Supermarkt) gehe oder die Viru-Straße (im Zentrum von Tallinn - MD) entlang gehe, dann sehen die Menschen, dass ich Jude bin, keiner sagt aber etwas Schlechtes zu mir. Es geht uns also gut in Estland. Und deshalb glaube ich, dass der russische Oberrabbiner Berl Lasar erst einmal mit uns hätte sprechen müssen, bevor er sich über unsere Gemeinde äußerte. Außerdem sind die Darstellungen falsch.

Die estnische Gemeinde wurde nicht konsultiert

(Frage) Man hat Sie überhaupt nicht befragt?

(Kot) Wir haben auf diesen Brief so reagiert, weil das estnische Volk und auch die Juden nicht unbedingt wissen, in welchem Verhältnis wir zu Rabbi Lasar stehen und weil sie denken, dass wir mit dem Brief einverstanden waren. Wir wurden aber nicht dazu befragt und keiner hat den Brief zuvor gesehen.

(Frage) Was könnte der Zweck dieses Briefes sein?

(Kot) Vor sechs Monaten nahm ich an einer Konferenz europäischer Rabbiner teil und wurde von ihnen gefragt, was es mit dem Denkmal in Parnu auf sich habe. Ich versprach, das herauszufinden und sprach mit Cilja Laud. Ich sagte (wahrscheinlich auf der Konferenz - MD), es gebe keinen Grund zur Befürchtung, alles sei in Ordnung, die Gemeinde funktioniere gut und wir brauchten keine Hilfe. Nun ist aber auch in Lettland ein Denkmal errichtet worden und Russlands Oberrabbiner Lasar sowie der Präsident des Verbandes Jüdischer Gemeinden der GUS, Levi Levayev, hatten die Gelegenheit, den Brief Ariel Scharon bei dessen Besuch in Russland zu übergeben. Warum sie das getan haben, weiß ich nicht. Vielleicht haben sie es getan, um uns zu helfen. Aber wie ich bereits gesagt habe, brauchen wir nicht diese Art von Hilfe, vielen Dank! Wir leben in Estland und kommen allein zurecht. Wenn man uns helfen will, dann sollte man zu uns kommen und mit uns reden. Andernfalls könnte ihr Einfluss nicht gut für uns sein.

Vielleicht sollten wir Vertreter europäischer und amerikanischer jüdischer Gemeinden nach Estland einladen, damit sie mit Regierungsvertretern über den Holocaust sprechen und sehen, dass in Estland alles in Ordnung ist.

Ähnlicher Versuch wurde bereits verhindert

(Frage) Kann es sein, dass hinter dem Brief ein politisches Ziel steckt?

(Kot) Wie ich bereits gesagt habe, besteht meine Arbeit darin, mit der Jüdischen Gemeinde zusammenzuarbeiten. Es ist nicht meine Aufgabe, darüber nachzudenken, was geschehen ist. Aber wie ich gesagt habe, ist es nicht das erste Mal, dass so ein Versuch unternommen wurde. Vor sechs Monaten versuchte man das gleiche und damals gelang es mir, sie daran zu hindern.

(Frage) Sie sagten, die Jüdische Gemeinde Estlands verurteile den Brief, der Ariel Scharon übergeben wurde. Wie haben die Letten (die lettischen Juden - MD) darauf reagiert?

(Kot) Mir wurde gestern gesagt, dass die Letten genauso reagiert haben. Ich habe Rabbi Lasar sogar einen Brief geschrieben und denke, er wird mir zustimmen, dass man einen Fehler gemacht hat. Ich hoffe, das wird nicht wieder geschehen.

(Frage) War einer der Gründe für die Ablehnung die Furcht, dass Antisemitismus in Lettland die Folge sein könnte?

(Kot) Ich weiß es nicht, aber wir wollen vorsichtig sein. Wir erwarten von Scharon keine Hilfe, er hat in Israel genug zu tun. Wir hoffen, dass alles so bleibt. Wir leben in einer offenen Gesellschaft und es geht uns gut.

Verhältnis zu russischen Juden

(Frage) Sie sind also mit Ihrem Leben in Estland zufrieden?

(Kot) Natürlich, gut ist gut und besser ist immer besser. Wir hoffen, dass es nie wieder dazu kommen wird, dass es in Estland keine Juden mehr gibt wie während des Zweiten Weltkriegs und dass die Esten gut über die Juden denken, denn wir mögen Estland. Das ist auch eine Antwort an die, die von Nazismus sprechen. Sie möchten die Juden und die jüdische Lebensweise in Estland ausmerzen, aber wir sind noch da.

(Frage) Bitte sagen Sie etwas zu dem Verhältnis zwischen den estnischen und russischen Jüdischen Gemeinden.

(Kot) Die meisten estnischen Juden sprechen aus historischen Gründen russisch und daher brauchen wir manchmal Hilfe von Moskau. Wir werden aber trotzdem nicht auch noch eine russische Version der Thora publizieren.

Ich bin aus den USA und nicht aus Russland hierher geschickt worden. Mein Mittelpunkt ist nicht Russland, obwohl ich zu ihnen (den russischen Juden - MD) gute Beziehungen unterhalte, und ich respektiere Rabbi Lasar, der nebenbei gesagt Italiener ist.

(Die in Tallinn herausgegebene russischsprachige estnische Zeitung "Estonija" berichtete in ihrer Ausgabe vom 4. November 2003, die Jüdische Gemeinde Estlands habe klar gestellt, dass sie nicht zum Verband Jüdischer Gemeinden der GUS gehöre und dieser Verband daher nicht im Namen Estlands sprechen sollte, habe Bedauern darüber geäußert, dass Hitlers "Mein Kampf" in Estland erschienen sei und die Bevölkerung im Zusammenhang mit dem Denkmal in Parnu beruhigt, dass Dinge, die mit Nazismus zu tun haben, nicht als estnischer Freiheitskampf dargestellt werden können. - MD) (TS)