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"Es klebt Blut an den Büchern"

Anastasija Boutsko20. November 2013

Als Stephan von der Schulenburg erfuhr, dass wertvolle Bücher der Familienbibliothek Beutekunst sind, stand für ihn fest: Die Bücher gehören zurück nach Russland. Im DW-Interview spricht er über seine Beweggründe.

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Stephan Graf von der Schulenburg, Kurator am Museum für Angewandte Kunst in Frankfurt (Hessen), aufgenommen am 08.07.2013. Im Nachlass seines von den Nazis getöteten Großonkels, Friedrich-Werner Graf von der Schulenburg (1875-1944), fand er Bücher ursprünglich sowjetischen Besitzes, die er jetzt an Russland zurückgeben möchte. Foto: Roland Holschneider/dpa (zu dpa-Korr "Raubkunst: Erben wollen aus Russland geraubte Bücher zurückgeben" vom 09.07.2013) +++(c) dpa - Bildfunk+++
Bild: picture-alliance/dpa

Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 starteten die Nationalsozialisten regelrechte Beutezüge durch Museen, Bibliotheken und Schlösser in den besetzten Gebieten. Besonders viele Zarenschlösser konzentrieren sich um die einstige Hauptstadt des zaristischen Russland, St. Petersburg, darunter das Schloss Pawlowsk. In der dortigen Schlossbibliothek beschlagnahmte das Sonderkommando unter SS-Obersturmbannführer Künsberg 12.000 Bände, darunter eine Gesamtausgabe des deutschen Dichters und Dramatikers Lessing und Briefwechsel der französischen Königin Marie Antoinette. Diese und andere Werke kamen in den Besitz der Familie von der Schulenburg. Stephan Graf von der Schulenburg gab jetzt 125 Bücher an das Schlossmuseum Pawlowsk zurück.

DW: Herr von der Schulenburg, gerade haben Sie dem Direktor des Museums Pawlowsk die Bücher übergeben, die jahrzehntelang in der Bibliothek in ihrem Familienschloss Falkenberg aufbewahrt wurden. Dorthin kamen Sie durch Ihren Großonkel, Friedrich-Werner Graf von der Schulenburg. Er war bis zum Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 deutscher Botschafter in Moskau. Nun haben Sie die Werke zurückgegeben. Welches Gefühl haben Sie dabei?

Eines von vielen prächigen Zarenschlössern in und um St. Petersburg: das Schloss Pawlowsk (Foto: Wikipedia)
Eines von vielen prächigen Zarenschlössern in und um St. Petersburg: das Schloss PawlowskBild: Wikipedia/Alex Florstein-SA

Stephan Graf von der Schulenburg: Es ist eigentlich ein sehr gutes Gefühl. Ich bin in einem sehr großen Haus aufgewachsen, in einer mittelalterlichen Burg, die mein Großonkel, jener Moskauer Botschafter, als Ruine in den 1930er Jahren gekauft und wiederaufgebaut hatte. Diese Burg war voll von schönen, aber auch von nutzlosen Dingen. Von diesem 1000 Quadratmeter großen Haus haben wir uns vor ein paar Jahren schweren Herzens getrennt. Wir mussten die Burg aus finanziellen Gründen aufgeben. Jetzt wird sie umgebaut zu einem Museum, auch zu Ehren meines Großonkels. Wir haben viele Dinge mit etwas Bauchschmerzen wegegeben. Aber in diesem Fall muss ich sagen: Als ich vor wenigen Monate die Geschichte von den Raubzügen Künsbergs gehört habe, war für mich vom ersten Moment an klar, dass es gar keine andere Möglichkeit gibt, als diese Bücher zurückzugeben.

Was hat Sie zu dieser Entscheidung geführt?

Es klebt Blut an diesen Büchern. Diese infame Raubzugaktion ist ein Teil eines Kriegsverbrechens. Man muss sich die ganze Situation vorstellen: Die Belagerung Leningrads [St. Petersburg hieß von 1924 bis 1991 Leningrad, Anm. d. Red.] war ein schreckliches Drama. Es sind über eine Million Menschen in diesem furchtbaren Akt des Krieges verhungert, während am Rande der belagerten Stadt Schlösser geplündert und Schätze, die seit 200 Jahren oder länger dort aufbewahrt wurden, nach Deutschland geschafft wurden! So etwas kann man doch nicht behalten, auch dann nicht, wenn man sie nicht selber geraubt hat, sondern der Großonkel sie geschenkt bekommen hat. Es ist einfach unrechtmäßig erworbenes Kulturgut. Und das muss an seinen ursprünglichen Ort zurück.

Von der Diplomatie zum Widerstand

Ihr Großonkel hatte versucht, Hitler vom Überfall auf die Sowjetunion abzuhalten. Als Kritiker der nationalsozialistischen Ostpolitik wurde er zunächst auf einen Posten ohne Einfluss abgeschoben. Schließlich schloss er sich dem Widerstand an und wurde nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944 hingerichtet. Doch in einem Dankesschreiben Ihres Großonkels an SS-Obersturmbandführer Künsberg lesen wir: "Lieber Baron, sollten Sie wieder Bücher bekommen und in der Lage sein, davon etwas abzugeben, so würde ich glücklich sein, wenn Sie an mich denken wollten". Man verabschiedet sich mit einem "Heil Hitler". Wie ist das zu verstehen und vor allem, wie hat Ihr Großonkel die Rechtslage aufgefasst?

Ich kann nur Mutmaßungen anstellen. Ich bin 1959 geboren, mein Großonkel ist 1944 hingerichtet worden. Ich habe mir die Bücher aus dem Pawlowsker Schatz sehr genau angeschaut und sie mit den anderen Büchern meines Großonkels verglichen. Mir fiel sofort auf: In keinem der Bücher aus Pawlowsk ist ein Hinweis auf meinen Großonkel vorhanden. Üblicherweise hat er in die Bücher sein Exlibris [eine Kennzeichnung des Eigentümers, Anm. d. Red.] hinein geklebt. Damit wurde das Buch Teil seiner Büchersammlung. Die Bücher aus der Künsberg-Raubaktion hat er ganz anders behandelt: Er hat sie offenbar so, wie sie aus Pawlowsk kamen, in die Ecke gelegt. Er hat sich die Bücher aussuchen dürfen, das ist überliefert, er hat sich in wenigen Sätzen höflich bedankt, aber die Tatsache, dass in den Büchern nichts auf seine private Buchsammlung verweist, ist für mich ein sehr deutliches Indiz, dass er diese Bücher nicht wirklich als sein Eigentum ansah.

Das Dankesschreiben von der Schulenburgs an SS-Obersturmbandführer Künsberg (Foto:KSL)
Das Dankesschreiben von der Schulenburgs an SS-Obersturmbandführer KünsbergBild: KSL

Warum erst jetzt?

Von der Schenkung der Bücher aus der Schloßbibliothek in Pawlowsk an den ehemaligen Botschafter in Moskau weiß man seit den 1990er Jahren. Bekannt war damals auch, um welche Bücher es ging: die Privatbibliothek der Zarin Maria Feodorovna, der als deutsche Prinzessin geborenen Sophie Dorothee von Württemberg und späteren Gattin des Zaren Pavel I., eine 30-bändigen Lessing-Ausgabe und Memoiren von Marie Antoinette, mit der die Zarin persönlich bekannt war. Warum erfolgt die Rückgabe erst jetzt?

Uns hat niemand angefragt, das ist die schlichte Tatsache! Ich erinnere mich an ein Gespräch mit meiner Mutter Anfang der 1990er Jahre. Eine befreundete Historikerin sprach meine Mutter darauf an, dass es wohl diese Bücher gebe und dass man sie nach Russland zurückgeben müsse. Aber man hat es nicht vertieft, und ich hatte als junger Mensch viele andere Dinge, um die ich mich kümmer musste. Wenn mir damals oder irgendwann später jemand erzählt hätte, dass diese Bücher aus einem solchen schrecklichen Raubzug stammen, hätte ich es auch damals nicht anders gehandelt, als jetzt.

Sind diese Bücher denn nicht als Besitz der Schlossbibliothek Pawlowsk gekennzeichnet?

Doch. Ich muss allerdings gestehen, ich habe kein Russisch gelernt und habe mich nie näher mit der Geschichte des Schlosses Pawlowsk beschäftigt. Ich habe den Namen Pawlowsk zum ersten Mal vor wenigen Monaten gehört. Vielleicht ist es Ignoranz eines Westeuropäers, aber ich muss es einfach so sagen: Das war für mich in diesem Sommer [als ich davon erfuhr, Anm. d. Red.] eine neue Erkenntnis.

Fast schon zu schön, um gelesen zu werden

Haben Sie diese alten Bücher einmal in die Hand genommen?

Ja, es sind wunderschöne alte Bücher. Sie sehen wunderbar aus in einem Bücherschrank. Sie sind aber fast zu edel, als dass man sie mit einer Tasse Kaffee oder im Bett liegend lesen möchte. Und so war das auch für uns. Ich lese viel, aber ich lese moderne Bücher. Lessing etwa habe ich in der Schule schon gelesen, aber eben nicht in der Ausgabe aus Pawlowsk, sondern in einer bescheidenen Taschenbuchausgabe. Mein Elternhaus war voller Bücher, aber diese Bücher aus Pawlowsk standen nicht im Fokus unseres täglichen Lebens. Vielleicht sind sie auch deswegen in Vergessenheit geraten.

Die Bibliothek von Schloss Pawlowsk: Hier wurden die Bücher geraubt (Foto: picture alliance)
Die Bibliothek von Schloss Pawlowsk: Hier wurden die Bücher geraubtBild: picture alliance/akg-images

Was bedeutet für Sie die Figur ihres Großonkels?

Das ist eine sehr besondere Beziehung. Man hat so ein bisschen das Gefühl, unser Großonkel schaut immer noch auf uns, obwohl er 1944 schon als Hitlergegner zu Tode gekommen ist. Die Geschichte ist sehr gegenwärtig. Nur ein Beispiel: Wir sind gerade im Umzug, packen Sachen und überlegen, was wir mitnehmen in die neue, kleinere Wohnung. Ich habe Küchentücher sortiert und sehe eines, auf dem steht: "Vor- und Fürsorgeamt SS". Da dreht sich einem der Magen um: Dieses Küchentuch stammt aus der furchtbaren Zeit, als mein Onkel verhaftet worden war und sich die SS in meinem Elternhaus breit gemacht hat. Mein Großonkel muss ein sehr beliebter, sehr charismatischer Mensch gewesen sein. Ich verneige mich vor ihm.

Graf Stephan von der Schulenburg, 54, ist Kurator für ostasiatische Kunst an dem Museum für Angewandte Kunst in Frankfurt am Main. Im Sommer wurde er durch eine Publikation in der Süddeutschen Zeitung auf die Existenz der Bücher aus den Nazi-Raubzügen in seiner Privatbibliothek aufmerksam. Die Publikation wiederum wurde initiiert von den Mitarbeitern des russisch-deutschen Forschungsprojektes "Russische Museen im Zweiten Weltkrieg", dessen Ziel es ist, Zerstörungen und Verlusten wertvoller Kunstwerke und Kulturgüter der russischen Museen im Zweiten Weltkrieg zu erforschen.