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Es ist Zeit für Nüchternheit

Klaus Dahmann20. Dezember 2004

Die EU hat auf ihrem Gipfel in Brüssel den Weg für Beitrittsverhandlungen mit der Türkei frei gemacht. Ob dies letztendlich zum Ziel führen wird, ist noch ungewiss. Nachbetrachtungen zum EU-Gipfel von Klaus Dahmann.

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Klaus Dahmann

Nun ist es also entschieden: Die Europäische Union wird am 3. Oktober 2005 mit der Türkei Verhandlungen über einen möglichen Beitritt aufnehmen. Ist das nun, wie einige behaupten, der Anfang vom Ende? Wird die EU Bankrott gehen? Wird sie sich zu einer reinen Freihandelszone zurückentwickeln? Oder werden in den Brüsseler Behörden gar - wegen der hohen Geburtenrate im Land am Bosporus - bald die Türken die Oberhand haben?

Sicher muss man solche Fragen ernst nehmen - aber ohne Katastrophenstimmung zu verbreiten. Denn das ist ebenso fehl am Platz wie das Jubilieren anderer, die die EU nach einem Türkei-Beitritt plötzlich als "Global Player" etabliert sehen. Es ist höchste Zeit, dass wieder Nüchternheit einkehrt.

Zu allererst ist nun ein klarer Katalog von Beitrittskriterien notwendig. Letztlich kommt es nämlich nicht darauf an, ob die EU der Türkei grundsätzlich eine Beitrittsperspektive gibt oder nicht, sondern darauf, ob beide einmal fähig sein werden, diesen Schritt zu tun.

Es kommt darauf an, der Türkei klar zu machen, dass sie den eingeschlagenen Reformweg strikt weitergeht, dass man in Brüssel keinen faulen Kompromisse eingeht. Vor allem der türkische Regierungschef Recep Tayyip Erdogan muss begreifen, dass er mit blinder Sturheit, wie er sie beim jetzigen Gipfel demonstriert hat, nicht weiter kommt. Dass er Probleme damit hat, ein Mitgliedsland - nämlich Zypern - anzuerkennen, zeigt, dass er die grundlegenden Prinzipien der EU offenbar nicht verstanden hat. Schwieriger zu definieren ist, wie sehr sich die Europäische Union verändern muss, um die Türkei aufnehmen zu können. Hier sind erst recht kühle Köpfe gefragt, die auch zum Beispiel den Mut haben, Abschied von den üppigen Agrarsubventionen und Regionalförderungen zu nehmen. Und zwar nicht nur, weil vielleicht einmal in ferner Zukunft die landwirtschaftlich geprägte Türkei beitritt - der Bankrott droht schon in wenigen Jahren mit den jetzigen Mitgliedern.

Es sind aber auch andere Weichenstellungen notwendig, vor allem die Klärung der Frage: Was soll die EU künftig sein? Eine Wirtschafts- und Währungsunion mit beschränkter politischer Zusammenarbeit wie jetzt - oder doch noch mehr? Soll es eine Gemeinschaft sein, bei der alle in allen Bereichen zusammenarbeiten sollen - oder doch lieber ein Rahmen-Europa, in dem sich Gruppen von Staaten bilden, die mehr Zusammenarbeit wollen als andere? Vieles ist denkbar, vieles ist möglich. Aber selbst die EU-Verfassung lässt hier keine klare gemeinsame Zielrichtung erkennen.

Eines hat sich 2004 quasi nebenbei herauskristallisiert: Erstmals hat sich die EU ernsthaft mit der Frage nach der Ostgrenze beschäftigt. Die weißen Flecken in Südosteuropa sollen nach und nach in die Union aufgenommen werden, da gibt es keinen Zweifel - aber eben auch keine Eile. Aber alles, was östlicher liegt, sollte sich keine Hoffnungen mehr auf eine Vollmitgliedschaft machen. Das trifft die Moldau-Republik ebenso wie die Ukraine. Einziger Ausnahme-Kandidat ist die Türkei, die zwar die Chance auf einen Beitritt bekommt - aber eben nur, wenn sie sich so weit reformiert, dass sie in den Kreis der Europäer passt.