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Mein 9. November

9. November 2009

Der damalige deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher erzählt im DW-Interview, wie er den Mauerfall erlebte, welche Aufgaben es damals zu lösen galt und welche Rolle Deutschland zukünftig in der Welt spielen sollte.

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Hans-Dietrich Genscher (Quelle: Ullstein Bild)
Bild: ullstein - Seyboldt

Deutsche Welle: Herr Genscher, wie haben Sie den 9. November 1989 erlebt?

Hans-Dietrich Genscher: Ich war mit Bundeskanzler Helmut Kohl zu einem offiziellen Besuch in Warschau. Beim Abendessen hörten wir die Nachricht von der Öffnung der Mauer. Sie können sich vorstellen, dass das offizielle Essen der polnischen Regierung ein ziemlich kurzes wurde. Hinterher haben wir uns gleich zusammengesetzt und besprochen, was das nun bedeutet. Und wir wussten, dass wir nach Berlin gehörten, wo am 10. November vor dem Schöneberger Rathaus eine große Demonstration stattfinden sollte. Was zu sagen einfacher war, als es zu tun. Weil nach den damaligen Regeln die Maschinen der Bundesluftwaffe nicht über DDR-Gebiet fliegen durften. So mussten wir eine Maschine heranholen, die uns von Warschau über die Ostsee flog, von dort nach Hamburg und danach flogen wir mit einer US-Maschine nach Berlin.

Ich habe die ganze Nacht nicht schlafen können. Nach alledem, was vorher passiert war - die Öffnung der Grenze in Ungarn, die Öffnung der Botschaft in Prag, war nun geschehen, was wir ersehnt und erhofft hatten. Es stellte sich die Frage: Wie werden wir die Situation jetzt meistern? Es war für mich ein unvergesslicher Tag.

Waren die Ereignisse um den Tag des Mauerfalls für Sie auch das politische Erlebnis überhaupt?

Ja, wenn ich einmal von dem mich emotional sehr berührenden Abend in der Prager Botschaft im Sommer '89 absehe. Vor dem Schöneberger Rathaus in Berlin habe ich gespürt, wenn du jetzt redest, dann redest du nicht nur zu den Leuten hier, sondern zu allen Deutschen und zur ganzen Welt. Ich habe dann gesagt, von einem Deutschland in Freiheit sei nie etwas Böses ausgegangen und ich sprach darüber, was dieses Deutschland sein würde, das jetzt entsteht. Das war eine Friedensbotschaft an einem besonders glücklichen Tag.

Genscher während der zentralen Kundgebung zur Maueröffnung vor dem Schöneberger Rathaus in Berlin mit Willy Brandt und Helmut Kohl (Foto: DPA)
Genscher (vorne) während der zentralen Kundgebung zur Maueröffnung vor dem Schöneberger Rathaus in Berlin mit Willy Brandt (Mitte) und Helmut Kohl (hinten)Bild: picture-alliance/ dpa

Haben Sie damals in Berlin schon gewusst, von hier aus kann es eigentlich nur noch einen Weg geben, nämlich den zur deutschen Einheit?

Ja, davon war ich überzeugt. Wie der Weg gehen würde, unter welchen Umständen, wie schwierig und welche Reaktionen es geben würde, das waren gänzlich offene Fragen. Wenngleich ich große Hoffnungen in Gorbatschow setzte, denn seine Politik zeigte Verständnis. Schon in meinem ersten Gespräch mit ihm als neu gewählten Generalsekretär hatte ich das Gefühl, dass für ihn das Kapitel "Deutschland" nicht abgeschlossen war. Er hat damals wahrscheinlich in anderen Zeitperspektiven gedacht.

Haben Sie auch in anderen Zeiträumen gedacht?

Ich war schon vor dem 9. November immer davon überzeugt, dass, wenn mir der Liebe Gott eine normale Lebenserwartung schenkt, ich es erleben würde. Und ich hoffte immer, dass ich etwas dazu beitragen könne. Deshalb bin ich heute auch so zufrieden.

Nach der Maueröffnung war klar, dass ein sich ständig beschleunigender Prozess in Gang gesetzt war. Es gibt Entwicklungen, die kann man lange aufstauen. Schon der Bau der Mauer war ja im Grunde das Eingeständnis der DDR-Führung, dass der Osten, die sozialistische Gesellschaftsordnung, den Wettbewerb der Systeme verloren hatte. Das Volk lief ihnen weg. Deshalb mauerten sie das Volk ein. Das war die Bedeutung des 13. August 1961. Die offene Mauer hieß, dass das Volk nun seinen Weg nicht mehr durch Weggehen, sondern durch Veränderung gehen würde. Wie schnell das gehen würde? Nun ja, wer damals oder jetzt von sich behauptet, gewusst zu haben, dass die Einheit ein Jahr später schon vollzogen sein würde, der übertreibt wohl ein bisschen.

Es waren aufregende Wochen und Monate damals. Es gab die Gründung der sozialdemokratischen Partei SDP in Schwante, im September '89 die berühmten Ausreiseversuche, dann die geglückte Ausreise von 4000 Menschen aus der Prager Botschaft, zu der sie maßgeblich beigetragen haben. Und es gab die Oktoberdemonstrationen …

Man muss den 9. Oktober in Leipzig besonders hervorheben. Der Ruf "Keine Gewalt", der von der Versammlung in der Kirche ausging, wirkte in die Stadt hinein - auch auf diejenigen, die mit der Kirche nichts zu tun hatten und auf die, die auf der anderen Seite die Entwicklung aufhalten sollten. An diesem Tag entschied sich, dass es eine friedliche Freiheitsrevolution wird - im Gegensatz zum 17. Juni 1953, als die Ostdeutschen zum ersten Mal revolutionär aufgestanden waren, damals übrigens auch zum ersten Mal im sowjetischen Machtbereich überhaupt. Es folgten die Aufstände 1956 in Ungarn, 1968 in der Tschechoslowakei und immer wieder in Polen, bis hin zu Solidarnosc. Es war eine europäische Freiheitsrevolution, das war das Besondere des Jahres 1989.

Leipziger Montagsdemonstration am 9. Oktober 1989 (Foto: DPA)
Leipziger Montagsdemonstration am 9. Oktober 1989Bild: picture-alliance/ dpa

Also war die Revolution 1989 für Sie keine Wende, sondern eine wirklich geglückte deutsche Revolution?

Ja, es war eine geglückte deutsche Revolution mit einer enormen Bedeutung für die Position Deutschlands in der Welt und in der Geschichte. Denn zum ersten Mal, da es in Europa um die Freiheit ging, waren die Deutschen auf der richtigen Seite. Zusammen mit den anderen im sowjetischen Machtbereich standen die Deutschen 1989 friedlich auf für Freiheit und Demokratie. Das hat uns Deutsche im Westen in einem immateriellen Sinne reicher gemacht und unser Ansehen gefördert.

Sie sind ein lang gedienter Außenminister und waren bereits 1989 mehr als 15 Jahre im Amt. Sie waren unglaublich erfahren und hatten viele europäische Debatten mitbestimmt. Wie schwer war es für Sie eigentlich, 1989 die deutsche Einheit mit den Alliierten abzusichern?

Die Unterstützung war überwältigend. Die Tatsache, dass die Mauer vom Osten her zum Einsturz gebracht worden war, durch friedliche Menschen und nicht nur in Deutschland, sondern auch in Ungarn, Polen, der Tschechoslowakei und durch die Revolution von oben in Moskau, das hat alles ungeheuer erleichtert.

Die breite Zustimmung bei unseren Nachbarn war natürlich auch die Frucht der langen Arbeit der Westintegration Deutschlands, der aktiven Rolle in der europäischen Einigung, aber genauso auch der Ostverträge, die das Verhältnis zum Osten entfeindet hatten, sowie der Schlussakte von Helsinki, die im Grunde westliche Wertvorstellungen in das Ost-West-Verhältnis eingebracht hatte. Nach Helsinki gab es mehr Informationsfreiheit. Das Stören westlicher Radiosendungen war nicht mehr zulässig, was damals das Wissen über die Vorgänge im Westen enorm erhöht hat. Und es gab verbesserte Reisemöglichkeiten.

Mit der Westintegration wie auch der Ostpolitik hatte sich in Deutschland auch viel für ganz Europa entschieden, das muss man wissen. Deutschland hat eine gute Rolle gespielt. Und schon damals waren die Deutschen in Ost und West vereint, nicht die Regierungen aber die Bevölkerung. Die Westintegration und die Ostpolitik wurden im Osten mindestens genauso willkommen geheißen wie von der Mehrheit der Bevölkerung im Westen.

Herr Genscher, Sie sind gebürtiger Hallenser. 1952 mussten Sie die Stadt verlassen. Seit 1989 waren sie häufig dort. Wie beurteilen Sie die innere Einheit Deutschlands heute, 20 Jahre nach dem Mauerfall?

Die ist weiter, als manche es für wahr haben wollen. Gewiss gibt es Leute, die Segnungen der Freiheit gern mit manchem aus der Vergangenheit verbinden. Aber Freiheit ist etwas Anspruchsvolles. Was mich so ermutigt, ist die Tatsache, dass eine Generation heranwächst, die sich bewusst ist, dass die Vergangenheit getrennt war, ihre Eltern in zwei verschiedenen Deutschlands lebten. Aber diese junge Generation hat eine gemeinsame Zukunft, die als eine gemeinsame Herausforderung akzeptiert wird. Wenn Sie mit jungen Menschen in Leipzig, Halle, Köln oder Bonn sprechen - alle haben dieselben Fragen an die Zukunft und stehen vor denselben Problemen. Das führt sehr viel mehr zusammen, als manche mit Nörgelei glauben, jetzt vorbringen zu müssen.

Herr Genscher, Sie waren ihr Leben lang ein Außenpolitiker, welche Rolle wird Deutschland in der Zukunft in der Welt spielen?

Ohne die europäische Einigung hätten wir die Einheit nicht erhalten. Europa ist unsere Zukunft, eine andere haben wir nicht. Deshalb wünsche ich mir, dass Deutschland innerhalb der europäischen Union eine wichtige Rolle im Sinne fortschreitender Integration spielt. Europa hat eine Mission in dieser Welt, nämlich davon zu überzeugen, dass man aus der Geschichte lernen, durch Zusammenarbeit viel erreichen und Trennendes überwinden kann. Wer dem anderen den Rücken zudreht, kann ihn nicht überzeugen, denn dafür muss man ihm in die Augen sehen können, selbst wenn er andere Meinungen vertritt.

Interview: Alexander Kudascheff

Redaktion: Kay-Alexander Scholz