1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Der baltische Musterschüler

Friedel Taube10. Juli 2013

Während viele Staaten im Süden Europas um ihr wirtschaftliches Überleben kämpfen, liefert ein kleines Land im Nordosten der EU exzellente Zahlen: Estland. Die DW war auf Ursachenforschung in Estlands Hauptstadt Tallinn.

https://p.dw.com/p/18yXz
Stadtansicht Tallinn, gesehen vom Domberg aus (Foto: DW/Friedel Taube)
Bild: DW/F.Taube

Schon das Gebäude im Südwesten der estnischen Hauptstadt Tallinn strahlt Selbstbewusstsein aus: Eine imposante Glasfassade, in der sich die Sonne spiegelt, fünf Stockwerke hoch. Das türkisblaue "S" des Internettelefonie-Unternehmens ist bereits im Eingangsbereich allgegenwärtig. Hier sitzt das Entwicklungszentrum von Skype, Estlands wohl bekannteste Erfolgsgeschichte des vergangenen Jahrzehnts. Tiit Panaanen, Teamleiter von Skype Estland, braucht keinen Chefsessel und kein Büro. Im Großraumbüro, zwischen seinen Mitarbeitern sitzend, erklärt er, wieso ausgerechnet Estland der ideale Ausgangspunkt für den Siegeszug der Telefoniesoftware war: "Es liegt an dem großen Potenzial hier, dem guten Schulwesen und vor allem der unglaublichen Bereitschaft, Technologien zu nutzen", sagt er und fügt voller Stolz hinzu: "Skype hat vielen Unternehmern in Estland gezeigt, dass es möglich ist, die Welt von hier aus zu verändern."

Europameister im Sparen

Nicht nur der IT-Sektor in Estland boomt seit Jahren. Auch sonst ist das nördlichste der baltischen Länder ein Vorzeigemodell innerhalb der Europäischen Union. Laut der jüngsten Erhebung des europäischen Statistikamtes Eurostat war Estland das Land in der EU, das 2012 die wenigsten neuen Schulden im Vergleich zu seinem Bruttoinlandsprodukt (BIP) machte - gerade mal 0,3 Prozent. Auf den Plätzen folgten Schweden, Bulgarien und Luxemburg. Zum Vergleich: Schlusslicht Spanien häufte 2012 neue Schulden in Höhe von 10,6 Prozent seines BIP auf. Auch beim Gesamtschuldenstand kann Estland gute Zahlen vorweisen; mit einer Verschuldung von 10,1 Prozent des BIP liegt das Land ganz vorne. Der Konservative Juhan Parts, estnischer Wirtschaftsminister, sieht in den guten Zahlen die Frucht jahrelanger Arbeit: "Das begann schon in den 1990er Jahren, als wir unsere Wirtschaft komplett neu aufbauen mussten", so Parts im DW-Gespräch. "Wir haben unser ganzes Währungssystem umgestellt  - da brauchte man einen ausgeglichenen Haushalt und eine niedrige Neuverschuldung. Dieses verlässliche Finanzsystem haben wir bis heute beibehalten."

Das Entwicklungszentrum von Skype in Tallinn (Foto: DW/Friedel Taube)
Das Entwicklungszentrum von Skype in TallinnBild: DW/F. Taube

2011 belohnte Brüssel das gerade mal 1,3 Millionen Einwohner zählende Land mit der Einführung des Euro - keine sieben Jahre nach dem Beitritt zur Union. Die Einführung der Gemeinschaftswährung mitten in deren größter Krise ist für Estlands Wirtschaftsminister Parts kein Widerspruch. "Wir wissen alle, dass der Euro nicht perfekt ist. Wir sind hauptsächlich beigetreten, um so bei unseren Handelspartnern für Vertrauen zu sorgen. Es ist für eine so kleine Volkswirtschaft ja sonst nicht einfach, klare Signale zu senden." Die Bevölkerung hat er dabei auf seiner Seite - eine breite Mehrheit befürwortet den Euro nach wie vor.

Das "fünfte Land Skandinaviens"

Mit Wachstumsraten bis zu 13 Prozent in den späten 1990er und frühen 2000er Jahren hatte die ehemalige Sowjetrepublik Wirtschaftsexperten weltweit zum Staunen gebracht, vom "baltischen Tigerstaat" war die Rede. Rainer Kattel ist einer der bekanntesten Politik- und Wirtschaftsanalysten des Landes und tritt häufig als Experte im TV auf. Der 39-jährige Este mit dem deutsch klingenden Namen wurde bereits vor elf Jahren Professor  - nicht ungewöhnlich in dem jungen Land. Kattel sieht vor allem die geografische Lage als den entscheidenden Erfolgsfaktor Estlands: "Wir liegen nah an Finnland und Schweden. Das bringt uns nicht nur Touristen, sondern vor allem auch Technologie und Investitionen." Grund für den kometenhaften Aufstieg Estlands war vor allem der Export in die skandinavischen Länder - 23 Prozent des Exports gingen auch 2012 nach Finnland, rund 15 Prozent nach Schweden. "Es ist eigentlich gar kein richtiger Export, denn es sind deren eigene Firmen, die Materialien importieren, in Estland produzieren lassen und dann die fast fertigen Produkte wieder ausschiffen. Man muss Estland fast schon als Teil Finnlands und Schwedens betrachten." Das fünfte skandinavische Land - so sehen sich die Esten, die sprachlich und kulturell eng mit Finnland verbunden sind, gerne. Schon allein als Abgrenzung zu Russland, das Estland jahrzehntelang besetzt hielt.

Portraitbild Rainer Kattel, estnischer Wissenschaftler an der Technischen Universität Tallinn (Foto: Rainer Kattel)
"Der Export kann nicht mehr weiter steigen": Wirtschaftsexperte Rainer KattelBild: Rainer Kattel

Auch durch die Krise kam Estland vor allem dank seiner skandinavischen Partner recht gut. Wachstumsraten wie vor zehn oder 15 Jahren sind allerdings lange passé - heute liegt man bei etwa einem Prozent. Kattel fordert vor allem, die Binnennachfrage müsse stimuliert werden. Am besten durch höhere Gehälter - auch wenn dies dem Export schaden sollte. "Der Exportsektor kann nicht mehr weiter wachsen. Entweder man will Billiglohnland für Skandinavien sein oder den ohnehin kleinen Binnenmarkt ankurbeln. Beides geht nicht."

Schiffe im Hafen von Tallinn (Foto: DW/Friedel Taube)
Nur zwei Stunden dauert die Überfahrt vom Tallinner Hafen nach HelsinkiBild: DW/F.Taube

Niedriglöhne und Abwanderung

Was angesichts der estnischen Erfolgszahlen auch oft übersehen wird, ist die soziale Komponente des Aufstiegs. Nicht alle Menschen profitieren davon, mehr als 17 Prozent der Esten leben unter dem Existenzminimum. Betroffen sind vor allem die mehr als 300.000 Bewohner mit russischen Wurzeln, von denen die Hälfte nicht mal einen estnischen Pass hat und somit zum Beispiel kein Wahlrecht besitzt. Kattel kritisiert: "Einer kleinen Bevölkerungsgruppe hierzulande geht es sehr gut, aber andere fallen hinten runter." Dazu gehörten nicht nur die Russen. "Auch Frauen geht es schlechter. Der Unterschied zwischen dem Durchschnittsgehalt von Frauen und Männern beträgt 28 Prozent - ein europäischer Höchstwert. Wir haben ein sehr unausgewogenes System", so Kattel.  Was der Grund dafür sei? "Wir haben uns vielleicht einfach zu schnell entwickelt", gibt der Wirtschaftsexperte zu. Viele Menschen in Estland entscheiden sich inzwischen dafür, das Land zu verlassen - und auch hier spielt die geografische Lage wieder eine Rolle: Die meisten gehen nach Finnland und Schweden. 

Die Politik interessiert sich für soziale Fragen zu wenig, findet Rainer Kattel. Tipps für eine fairere Sozialpolitik würden ignoriert, man verstecke sich hinter den Erfolgen. "Sie sagen: Schaut, jeder liebt uns in Europa, Angela Merkel mag uns, also, lasst uns in Ruhe!" Die Folgen seien kaum absehbar. "Sicher sind mehr und mehr Menschen desillusioniert und wenden sich von der Politik ab."

Neue Erfolgsgeschichten erwartet

Bei denen, die wählen wollen und können, scheint die neoliberale Politik der Regierung von Ministerpräsident Andrus Ansip allerdings gut anzukommen - 2011 wurde sie für vier weitere Jahre im Amt bestätigt. Bis dahin will sich auch Wirtschaftsminister Parts nicht von seiner restriktiven Sparpolitik abwenden. "Das ginge auf Kosten der nächsten Generation", so der 46-Jährige. "Schulden machen ist immer ein Risiko."

Tiit Panaanen sieht Tallinn als den idealen Standort für das Entwicklungszentrum von Skype - auch, wenn die Zentrale des inzwischen zum Softwareriesen Microsoft gehörenden Unternehmens längst nicht mehr in Estland liegt. Und er ist überzeugt, dass Skype nicht die letzte estnische Erfolgsgeschichte war. "Da wird in den nächsten Jahren noch einiges kommen. Vieles, was die Welt verändern wird und was seine Wurzeln in Estland hat." Und was dann vielleicht zu neuen Höhenflügen des kleinen Baltenstaates beitragen wird.

Portraitbild Tiit Panaanen, Teamleiter Skype Estland (Foto: DW/Friedel Taube)
Tiit Panaanen, Teamleiter bei Skype in TallinnBild: DW/F.Taube