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EU-Müdigkeit und Erwartungsdruck

Alexander Kudascheff27. Dezember 2006

Die Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr - es ist nichts los in Brüssel. Es sind die Tage zum Atemholen - für die Europäische Union.

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Alexander Kudascheff

Die Finnen wickeln nur noch ein bisschen Routine ab. Ihre Präsidentschaft ist unwiderruflich vorbei. Die Deutschen dagegen spannen die Kräfte zum Start. Sie wissen, ihnen stehen sechs anstrengende Monate bevor - so anstregend, dass es erst einmal keinen Urlaub für die Mitarbeiter der Ständigen Vertretung geben wird. Andererseits: Deutschland ist ein großes Land, es kann die Aufgaben, die mit der Präsidentschaft verbunden sind, souverän meistern. Ganz anders als die Luxemburger, die bei ihrer Präsidentschaft - trotz der großen Routine des Gründungsmitglieds der EWG - mehr als 1000 Beamte aus dem Ruhestand reaktivieren mussten. Sonst hätten sie die Fülle an Terminen und Veranstaltungen nicht schaffen können. Das ist bei den Deutschen nicht zu befürchten.

Trotzdem grassiert ein Virus unter den Deutschen in Brüssel. Er heißt: Erwartungsdruck. Man erwartet von den Deutschen viel, sehr viel, wahrscheinlich zuviel. Aber: dieser Erwartungsdruck ist auch Ausdruck der gedämpften Stimmung in der EU, er ist Ausdruck einer veritablen Krise, einer EU-Müdigkeit, einer neuen Unübersichtlichkeit im früher mal exklusiven Club, der heute zu einem Chor der 27 angeschwollen ist - mit all seinen Beliebigkeiten, aber auch seiner Unberechenbarkeit. Die Zeiten, in denen die Staats- und Regierungschefs selbst härteste Kontroversen menschlich abfedern konnten, diese Zeiten sind vorbei. Aber: man sehnt sich nach ihnen. Man sehnt sich nach Zielen. Man sehnt sich nach Wegen aus der Krise. Und da schaut alles, da schauen alle auf Berlin.

Viele trauen Merkel ein kleines Wunder zu

Zum einen, weil Deutschland natürlich als größtes Land (und größter Nettozahler) in der EU etwas bewegen kann, wenn es nur will. Zum Zweiten: In Deutschland regiert eine stabile Koalition - ohne Anzeichen von Krisen, gar von Gefährdungsmomenten. Das ist beim Nachbarn Frankreich schon anders. Die nächsten vier Monate ist La France durch den Präsidentschaftswahlkampf gelähmt. In England wird Blair durch Brown abgelöst. Damit fallen schon mal zwei Große aus. Und aus Polen oder Spanien sind auch keine Impulse zu erwarten. Da bleibt nur der sehnsuchtsvolle Blick nach Berlin - zu Angela Merkel, der hier viele durchaus ein kleines Wunder zutrauen.

Nämlich: die im politischen Koma (nach den zwei gescheiterten Referenden in Frankreich und den Niederlanden) liegende europäische Verfassung wiederzubeleben. Wie? Ungewiss. In welcher Richtung? Ungewiss. Aber: ein Fahrplan soll es schon sein. Ein klarer Zeitplan, der eingehalten werden muss - denn ohne Verfassung, das ist allen klar (selbst den Gegnern der Verfassung) implodiert die EU. Sie ist nicht mehr handlungsfähig und sie ist vor allem nicht effizient handlungsfähig. Denn der kleinste gemeinsame Nenner von 27 - heißt Lähmung. Doch was tun?

Neue Verfassung wird in Hinterzimmern ausgeklüngelt

Sicher wird die neue europäische Verfassung deutlich dünner sein. Sie wird klarer sein. Sie wird nicht mehr Verfassung heißen, sondern Grundgesetz, vielleicht sogar nur Geschäftsordnung. Sie wird das Wichtige erhalten und trotzdem im neuen Gewand daherkommen. Denn man muss ja was ändern, damit die Neinsager zustimmen können, aber nicht soviel, dass die bisherigen Jasager plötzlich Nein sagen. Da ist diplomatische Finesse gefragt. Und deswegen wird es keinen Verfassungskonvent geben, sondern eine Konferenz der Staats- und Regierungschefs. Und sie wird vorbereitet durch 27 Sherpas, persönliche Vertraute der jeweils Mächtigen, die ausloten, welchen Spielraum es gibt. Mit anderen Worten: Die neue Verfassung wird in den Hinterzimmern ausgeklüngelt, damit die EU aus der Ohnmacht erwacht.

Und deswegen hoffen alle auf die pragmatische Kühle, die intellektuell beherrschte Gelassenheit, vom Ergebnis bestimmt denkende Angela Merkel. Ihr traut man das zu - und deswegen beschwören alle Deutsche in allen Gesprächen unentwegt. "Erwartet keine Wunder von den Deutschen". Doch genau das will die EU. Nicht mehr, ganz bestimmt, aber eben auch nicht weniger.