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EU-Mitgliedschaft der Türkei kaum noch realistisch

Baha Güngör29. September 2005

Ob die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei am Montag beginnen oder nicht ist unerheblich, meint Baha Güngör in seinem Kommentar. Zu einer EU-Mitgliedschaft des Landes werde es ohnehin nie kommen.

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Keines der 25 EU-Mitglieder einschließlich Zypern will als Spielverderber an den diplomatischen Pranger gestellt werden. Deswegen dürfte es am Sonntagabend (2.10.2005) praktisch in letzter Minute eine Einigung auf den notwendigen Verhandlungsrahmen mit der Türkei geben und die Gespräche werden wohl planmäßig am Montag beginnen. Letztlich werden sich die EU-Staaten deswegen auf ein Verhandlungsmandat einigen, weil auch die EU-Mitglieder, die der Türkei kritisch gegenüber stehen, ihre nationalen Interessen leichter im Rahmen eines Verhandlungsprozesses verfolgen können. Mit einer Türkei hingegen, die als nicht verhandlungswürdig abgelehnt wird, ließe sich keinerlei Fortschritt mehr erzielen.

Doch selbst wenn die Beitrittsverhandlungen am Montag beginnen sollten - eine EU-Mitgliedschaft der Türkei ist kaum noch realistisch. Wer heute noch glaubt, die Türkei werde irgendwann um das Jahr 2020 herum nach 10- oder 15-jährigen Verhandlungen noch EU-Mitglied, ist entweder naiv oder schätzt die innenpolitische Situation in der Türkei völlig falsch ein.

Im europäischen Interesse

Die Türkei liegt geographisch in einer Region, an deren Stabilität Europa ein vitales politisches, wirtschaftliches und sicherheitsstrategisches Interesse haben muss. Alles spricht für eine Einbeziehung der Türkei in die europäischen Integrationsprozesse und für ihre Verpflichtung zu Werten und Visionen Europas. Stattdessen ist das Denken in vielen EU-Ländern von kurzfristigen innenpolitischen Interessen geprägt. Weil die Bevölkerungen beispielsweise in Frankreich, Deutschland und Österreich den EU-Beitritt der Türkei zum jetztigen Zeitpunkt mehrheitlich ablehnen, setzen sich die gegenwärtigen beziehungsweise künftigen Regierungsparteien an die Spitze einer Ablehnungsfront. Anstatt die Chance zu nutzen, ihre Völker vom Nutzen eines Türkei-Beitritts in ein oder zwei Jahrzehnten zu überzeugen.

Wenn nun am 3. Oktober die Verhandlungen beginnen sollten, geht es daher weniger um die Frage, ob diese Verhandlungen jemals erfolgreich zu Ende geführt werden. Vielmehr geht es darum, wann sie als gescheitert betrachtet und ab- oder zumindest für einige Jahre unterbrochen werden müssen. Grund für das Scheitern werden nicht die die EU-Rechtsnormen, der so genannte "acquis communautaire" sein. Hierfür können lange Übergangszeiten oder dauerhafte Sicherheitsklauseln vereinbart werden. Und gerade weil die Türkei einerseits das mit Abstand größte und bevölkerungsreichste Land ist, das sich jemals um einen EU-Beitritt bemühte, und derzeit auf so vielen ökonomischen Feldern noch weit hinter dem EU-Durchschnitt zurückliegt, ist ein so langer Verhandlungszeitraum veranschlagt. Doch für all diese Probleme könnten sich Lösungen finden lassen.

Fehler der EU

Darüber hinaus begeht die EU einen riesigen Fehler, wenn sie die Türkei schon zu Beginn der Gespräche mit Maximalforderungen wie der Anerkennung Zyperns und des Bekenntnisses zum Völkermord an den Armeniern konfrontiert. So verspielt sie ihre Trumpfkarten im Verhandlungsmarathon leichtsinnig und verhärtet die Fronten in einem Staat, der über derartige heikle und sensible Themen im Verlauf seiner Heranführung an die europäischen Wertewelten zu sprechen bereit sein könnte - und auch müsste.

Doch in der Türkei ist die EU-Euphorie schon längst verflogen. Die Nationalisten befinden sich auf dem Vormarsch und erobern verlorenes Terrain wieder zurück. Es ist längst kein Geheimnis mehr, dass nach den nächsten Wahlen - planmäßig in zwei Jahren, wahrscheinlich aber schon im nächsten Jahr - der türkische Nationalismus eine Renaissance erleben wird. Bei den türkischen Bürgern verfestigt sich die Position, dass die vielen Reformen der vergangenen Jahre und die mühsame Stärkung der demokratischen Kräfte in Erwartung einer Beitrittsperspektive zur EU letztlich vergebens waren. Weil die EU das islamische Land an der Nahtstelle Europas zu Asien grundsätzlichen ablehnt - ganz gleich welche Fortschritte es vollzieht.

Schade, dass die EU die sich bietende Chance verspielt, ihrem Anspruch als "global player" und ihrer Ernsthaftigkeit bei der Förderung des Dialogs zwischen Kulturen und Religionen Nachdruck zu verleihen. Schade auch um die bisherige Entwicklung der Türkei zu einem demokratischen Rechtstaat europäischer Prägung, der herbe Rückschläge drohen. Wenn die Beitrittsverhandlungen zwischen der EU und der Türkei wie geplant beginnen, werden die Teilnehmer an diesen Verhandlungen schon vor dem Start ausgelaugt sein. Für ein langes Rennen wird ihnen die Luft fehlen - wenn nicht noch ein Wunder geschieht.