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Euro-Rettung hautnah

21. Mai 2010

Nicht jeden Tag wird im deutschen Parlament ein historischer Beschluss gefasst. Ein guter Anlass, live im Bundestag dabei zu sein. Journalisten dürfen das.

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Fernschreiber Berlin (Grafik: DW)
Bild: DW

So fühlt sich also ein historischer Tag an. Jedenfalls kommt diese Formulierung in fast jeder Rede vor, die gerade im Deutschen Bundestag gehalten wird. Historisch atemberaubend ist auf jeden Fall die Summe, um die es geht. Das Parlament beschließt gerade, dass sich Deutschland zur Rettung des Euro aus den Klauen der Spekulanten an der stolzen Summe von 750 Milliarden Euro in Form eines Rettungsschirms beteiligt. Nicht zu verwechseln mit der Milliarden-Stütze, die vor zwei Wochen zugunsten der bankrotten Griechen ebenfalls im Bundestag beschlossen wurde.

Eigentlich ist also heute, da der Bundestag den 750-Milliarden-Rettungsschirm aufspannt, ein guter Tag, um ganz nah dabei zu sein. Darf aber nicht jeder. Journalisten dürfen das schon, wenn sie im Besitz einer Jahresakkreditierung sind. So einen Ausweis in Form einer Scheckkarte besitze ich - ich, der Journalist.

Jens Thurau (Foto: DW)

Ich betrete das Reichstagsgebäude...

...durch den Nordeingang, gehe nach rechts zu den Aufzügen und fahre in den zweiten Stück, der im Fahrstuhl als Besucherebene gekennzeichnet ist. Nach links geht es durch eine große Glastür - und schon wimmelt es von Menschen. Hier trifft der Pressemensch nämlich mit Hunderten von Bürgern - Schulklassen zumeist oder Reisegruppen - zusammen, die für ein paar Minuten einen Blick auf die Politiker werfen dürfen. Sie sind mit einem anderen Fahrstuhl hierher gebracht worden. Pressemensch und Normalbürger nehmen dann zusammen auf der Tribüne Platz, Normalmensch für ein paar Minuten, Pressemensch so lange er will.

Die Reden selbst, ihr Inhalt gar, sind gar nicht so interessant. Von hier oben ist es viel lohnender, den Blick auf die mehr oder weniger zuhörenden Politiker zu richten. Die Kanzlerin fingert unentwegt auf ihrem Handy herum, sie gilt als leidenschaftliche SMS-Schreiberin - Spötter behaupten, ohne Kurz-Mitteilungen sei das Land nicht mehr regierbar. Plötzlich springt sie auf und läuft zu CDU-Fraktionschef Volker Kauder hinüber und redet nervös auf ihn ein. Ist die Mehrheit für das Euro-Hilfspaket nicht sicher?

Pressetribüne mit besserer Sicht

Dann geht der FDP-Haushaltexperte Otto Fricke ans Podium. Er wird mit heftigen Schmährufen von SPD, Grünen und Linkspartei begrüßt, die dann seine ganze Rede begleiten. Der Grund: Vor drei Tagen, als der Bundestag schon einmal über das Euro-Gesetz beriet, hat SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier in Richtung FDP gefragt. "Wollen sie eigentlich, dass wir dem Gesetz zustimmen?" Und Fricke hat laut "Nein" gerufen. Dadurch hat er sich viele Feinde gemacht. Jetzt sieht man von der Tribüne, wie er sich ständig aufrichtet, sich auf die Zehenspitzen stellt und sich verteidigt gegen den Sturm der Verwünschungen. Im Fernsehen ist das nicht zu sehen, sondern nur hier auf der Pressetribüne.

Und dann, als alle Reden gehalten sind, sieht man, wie nervös Merkel ist. Die namentliche Abstimmung läuft, sie hat als erste ihre Stimmkarte in die Urne geworfen. Jetzt spricht sie mit Finanzminister Schäuble, der ihr erregt etwas erzählt und dann mit der flachen Hand vor dem Gesicht herumwirbelt - irgendwer, soll das bedeuten, spinnt total. Wahrscheinlich einer von der Opposition, denn die Kanzlerin nickt heftig.

Aber dann ist es geschafft, die Mehrheit hat gehalten, der Rettungsschirm ist aufgespannt - kein Triumph auf der Regierungsbank, aber Erleichterung. Neben dem Pressemenschen wechselt jetzt zum vierten oder fünften Mal die Besuchergruppe. "Hätte ich mir nicht so spannend vorgestellt", raunt ein Mann aus Sachsen seiner Frau im Gehen zu. Stimmt, aber es war eben auch ein historischer Tag.

Autor: Jens Thurau
Redaktion: Kay-Alexander Scholz