1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Europa braucht einen Plan B für Belarus

7. Juli 2011

Ein Umsturz in Minsk könnte Europa kalt erwischen. Was kommt nach Lukaschenko? Für ein solches Szenario hätte die EU derzeit wohl keine Antworten, meinen Experten.

https://p.dw.com/p/RYLp
Ein Umsturz in Belarus könnte Europa kalt erwischen.
Ein Umsturz in Belarus könnte Europa kalt erwischen.Bild: picture-alliance/dpa

Das erneute harte Durchgreifen gegen friedliche Demonstranten am Mittwoch (07.07.2011) macht deutlich, dass Weißrusslands Präsident Lukaschenko auf keinen Fall eine "bunte Revolution" wie in der Ukraine 2004 oder einen "Arabischen Frühling" zulassen wird. Auch viele Experten halten es für verfrüht, von einer aufkeimenden Revolte in Belarus zu sprechen.

Osteuropa-Experte Alexander Rahr von der DGAP
Osteuropa-Experte Alexander Rahr von der DGAPBild: DW

Doch für den Fall einer Verschärfung der Finanz- und Wirtschaftskrise scheint nichts ausgeschlossen. Extremsituationen hätten fast immer einen Wechsel an der Staatsführung zur Folge, sagt Osteuropaexperte Alexander Rahr von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Er meint, die Europäische Union sei auf ein solches Szenario in Belarus nicht vorbereitet. "Die EU träfe dies ebenso unvorbereitet wie die Ereignisse in Nordafrika oder die so genannte Orangene Revolution in der Ukraine."

Suche nach Gesprächspartnern

Der Experte des Deutschen Marshall-Fonds, Jörg Forbrig, gibt zu Bedenken, Voraussetzung für eine gemeinsame Position der EU sei ein Konsens innerhalb der Gemeinschaft. Der aber sei nicht leicht zu finden. Nach Meinung von Alexander Rahr wäre der Brüsseler Handlungsspielraum im Übrigen sehr eng, auf Veränderungen in Belarus zu reagieren. Den Grund sieht Rahr darin, dass sich die EU ausschließlich auf die heutige belarussische Opposition stütze. "Dies sind aber nicht die Leute, die Rückhalt in der Bevölkerung genießen. Zudem sind sie nicht in der Lage, einen Machwechsel herbeizuführen, weder im Rahmen einer Evolution noch einer Revolution", ist Rahr überzeugt.

Lauras Bielinis, Politikwissenschaftler an der Universität Vilnius, ist gegenteiliger Meinung. Er glaubt, enge Kontakte mit der Opposition könnten für die EU eine entscheidende Trumpfkarte sein, vor allem dann, wenn die Gesprächspartner nach einem politischen Wandel das Ruder in Belarus übernehmen würden.

Massenproteste wie auf dem Kairoer Tahrir-Platz will Minsk auf jeden Fall vermeiden
Massenproteste wie auf dem Kairoer Tahrir-Platz will Minsk auf jeden Fall vermeidenBild: dapd

"Ich mag an ein solches Szenario derzeit nicht glauben. Doch falls es so kommt, dann werden Persönlichkeiten die Macht übernehmen, die sich schon heute in den staatlichen Strukturen befinden: in den Ministerien, insbesondere den Sicherheitskräften, oder aus dem Kreis den Gouverneure. Und zu diesen Leuten unterhält die EU keinerlei Kontakte", argumentiert Rahr.

Fehlende Handlungsoptionen

Der Blick auf die Ereignisse in Nordafrika lehrt, dass Revolten auch in Staaten ausbrechen könnten, deren politische Stabilität zuvor selbst von Experten nicht ernsthaft in Zweifel gezogen wurde. Die Umwälzungen in den arabischen Ländern stellen auch die internationale Staatengemeinschaft vor neue Herausforderungen: Wie hält man es mit neuen Machthabern? Was tun mit Flüchtlingen? Wie vermeidet man den wirtschaftlichen Kollaps in den Ländern?

Dabei geht es nicht nur um eine kurzfristige Nothilfe, sondern auch darum, einen Zusammenbruch staatlicher Strukturen zu vermeiden. "Die EU steht auf den Standpunkt: Wenn Minsk den Pfad der Demokratie beschreitet, dann helfen wir. Wenn nicht, dann müssen sie selbst sehen, wie sie zurechtkommen." Rahr weist darauf hin, dass sich Brüssel mit dieser Haltung der Möglichkeit beraube, Einfluss auf die Situation im Land zu nehmen.

Niemand habe einen Plan B für die Zeit nach einem Umsturz in Belarus, stellt Forbrig fest - weder in der EU, noch in Russland oder in der belarussischen Opposition. Mach Meinung des Experten müsse man den Umstand begrüßen, dass die Europäische Union sich bemühe, überhaupt eine aktive Rolle zu spielen. Oberste Priorität der EU sollte es laut Forbrig sein, die Anwendung von Gewalt für den Fall eines Umsturzes in Belarus auszuschließen und auf eine Demokratisierung des Landes einzuwirken.

Russland oder EU?

Gaspipelines verlaufen über weißrussisches Territorium (Foto: AP)
Gaspipelines verlaufen über weißrussisches TerritoriumBild: AP

Auf den Ausbruch von Unruhen und Chaos in Belarus wäre die EU nicht vorbreitet, meint der Politologe Bielinis. "Durch Belarus führen viele wichtige Verkehrsrouten, auch Routen für den Energietransport zischen der EU und Russland, die dann zerstört werden könnten."

In Europas Interesse liege weder ein instabiles Weißrussland noch eine Vereinigung des Landes mit Russland, glaubt Alexander Rahr. Daher brauche Brüssel einen Plan B. Der aber sollte nicht auf eine Isolierung der belarussischen Führung abzielen, sondern auf einen kritischen Dialog. Man müsse Belarus eine Perspektive aufzeigen: Die EU sollte Minsk die rettende Hand ausstrecken, wenn es im Gegenzug seine Wirtschaft für den Westen öffnet.

Wenn Belarus diesen Weg beschreite, werde sich das Land zwangsläufig auch politisch verändern. "Genau das fürchtet die Führung in Minsk. Doch allmählich wird die Situation immer auswegloser", folgert Alexander Rahr. Mit anderen Worten, je länger die Krise andauert, desto weniger Optionen verbleiben der belarussischen Führung: entweder sich Russland annähern oder der EU.

Autor: Vladimir Dorokhov / Birgit Görtz

Redaktion: Bernd Johann