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Europa und der Balkan

Dinko Gruhonjić 15. Mai 2012

Vorurteile, Komplexe und Hoffnungen prägten jahrhundertelang das Verhältnis zwischen Europa und dem Balkan. Eine Konferenz untersuchte, was dahinter steckt.

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Blick auf Sarajevo, Hauptstadt von Bosnien und Herzegowina (Foto: DW/Samir Huseinovic)
Sarajewo, die Hauptstadt von Bosnien und HerzegowinaBild: DW

Der Blick aus Westeuropa zu den südöstlichen Nachbarn ist bis heute von Stereotypen geprägt. Das ist die Einschätzung von Wissenschaftlern, die vom 9. bis zum 13. Mai an einem Symposium auf der kroatischen Insel Brač teilgenommen haben. Die Konferenz fand unter der Schirmherrschaft des Auswärtigen Amtes und des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) statt.

'Eurotopie' in Bosnien-Herzegowina

Doch auch auf dem Balkan mangelt es nicht an Klischees, wenn es um Westeuropa geht. In Bosnien und Herzegowina, einem vom Krieg in den 1990-er Jahren schwer gezeichneten Land, habe Europa beinahe den Status eines utopischen Raums, meint der Universitätsprofessor Enver Kazaz aus Sarajevo. "Diese 'Eurotopie' gibt es auf politischer Ebene, wobei man sich die Europäische Union als einen Ort der Rettung vorstellt", sagt Kazaz. "Man glaubt, alle internen Konflikte würden einfach verschwinden, wenn Bosnien und Herzegowina der EU betreten könnte". Diesen Irrglauben verbreite die politische Elite - doch durch ihr Verhalten entferne sich das Land noch weiter von der EU, meint der Experte. "Daher ist diese 'Eurotopie' eine Art mentale Falle für das Volk“, sagt Kazaz.

Enver Kazaz, ein Literaturwissenschaftler aus Bosnien (Foto: DW)
Enver Kazaz warnt vor einer Idealisierung EuropasBild: DW

Anders als Bosnien-Herzegowina hat das Nachbarland Serbien bereits den Status eines EU-Beitrittskandidaten. Doch für die Serben spielen Minderwertigkeitskomplexe gegenüber Europa eine große Rolle, meint Pavle Sekeruš von der Universität im serbischen Novi Sad.

Komplexe in Serbien - Ernüchterung in Kroatien

"Diese Komplexe haben sich aus einer offensichtlichen zivilisatorischen, industriellen, technologischen und materiellen Rückständigkeit herausgebildet." Durch so eine Situation komme einerseits das Gefühl auf, dass man zu dieser europäischen Welt gehören will. "Andererseits gibt es da aber auch die umgekehrte Logik: Weil die Westeuropäer uns in ihrem zivilisatorischem Maßstab als eine niedere Klasse betrachten, werden wir ihnen zeigen, dass wir das eigentliche Zentrum sind“, sagt Professor Sekeruš.

Kroatien leidet zwar nicht an solchen Komplexen und wird nächstes Jahr EU-Mitglied. Doch ganz unbeschwert ist das Verhältnis zu Europa auch nicht, meint Aleksandar Jakir von der Universität im kroatischen Split. Kroatien sei "seiner überhöhten europäischen Erwartungen" müde geworden. Der Wissenschaftler verweist dabei auf die geringe Beteiligung der Kroaten beim Referendum über den EU-Beitritt ihres Landes. Damals stimmten im Januar 2012 nur 43 Prozent der Bürger ab, zwei Drittel der Kroaten votierten für den EU-Beitritt. "Doch die Hoffnungen und Erwartungen, die es noch Anfang der 1990er Jahre gab, sind abgeebbt. Jetzt betrachtet man das Ganze ein wenig realistischer", sagt Aleksandar Jakir. "Allerdings denken die meisten Bürger, dass es keine wirkliche politische Alternative zum EU-Beitritt ihres Landes gibt."

Europa unterschätzt den Balkan

Doch auch die alten Vorurteile Europas gegenüber dem Balkan seien in den 1990er Jahren, während der Kriege im ehemaligen Jugoslawien, wieder aufgelebt, meint der Wissenschaftler Pavel Serekuš: "Das sind Vorstellungen von wilden barbarischen Kriegern, die gegen die Zivilisation sind, die sich antieuropäisch und eher orientalisch aufstellen.“

Professor Kazaz aus Sarajevo fügt hinzu, dass die EU oft versuche, diese Region des Balkan zu 'zivilisieren'. "Damit wiederholt sie die alten Klischees über den balkanischen Hass, über die Völker, die man entweder befrieden muss oder sich selbst überlässt." Doch die Westeuropäer würden fälschlicherweise nicht aufzeigen, wer die ideologisch und politisch Verantwortlichen seien, die Verbrechen und Leid verursacht haben, meint Kazaz.

Wer schämt sich für den Balkan?

In Kroatien, wo man sich früher noch für den Balkan geschämt habe und sich nicht an die Geschichte im gemeinsamen Jugoslawien erinnern wollte, schaue man heute nüchterner auf diese Region, erklärt der kroatische Experte Jakir. Anfang der neunziger Jahre habe er in der kroatischen Öffentlichkeit eine deutliche Balkanophobie bemerkt. "Heute ist man sich jedoch bewusst, dass Kroatiens Identität sowohl aus der mitteleuropäischen und mediterranen, als auch aus der balkanischen Komponente besteht."

Kroatische Fahne und EU-Flagge (Foto: AP Photo/Darko Bandic)
Kroatien wird 2013 EU-MitgliedBild: dapd

Ähnliches beobachtet Mirt Komel von der Universität Ljubljana in Slowenien. Sein Land ist schon seit 2004 EU-Mitglied. Komel sagt, dass die Slowenen sich ebenfalls von der "Balkan-Mentalität" distanzieren wollten. "Aber es hat sich gezeigt, dass in der EU auch nicht Milch und Honig fließen. Daher wendet sich die junge Generation jetzt mehr dem Balkan zu", erklärt der Wissenschaftler. "Die jungen Menschen sind die anonyme europäische Bürokratie-Maschine leid. Sie nehmen den Balkan als eine legere, unkonventionelle Alternative wahr."

EU und Balkan: Eine Frage der Identität

Viele Stereotypen über Europa oder den Balkan sind bis heute präsent, bestätigt Literaturwissenschaftlerin Tanja Zimmermann von der Universität Konstanz. Daran seien nicht zuletzt die Medien schuld: "Der Balkan wird dargestellt als Grenze zwischen dem Osten und dem Westen, aber auch als Problem, das gelöst werden muss", kritisiert die Wissenschaftlerin. "Jedes Mal wenn über EU-Beitrittsländer diskutiert wird, taucht automatisch die Frage auf, inwieweit das Land 'balkanisch' ist."