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Europa-Unterricht für finnische Schüler

Stefan Tschirpke10. September 2006

Wie funktioniert Europa? Für finnische Schüler steht dieses Thema seit Beginn des neuen Schuljahres auf dem Stundenplan - mit dem Kurs "Europakunde und Europäische Union". Die jungen Leute sind mit Eifer dabei.

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Finnlands Präsidentin Tarja Halonen und EU-Kommissionspräsident Barroso zu Beginn der finnischen RatspräsidentschaftBild: AP

Welche Befugnisse hat das Europäische Parlament, wieviel Macht übt die EU-Kommission aus, und was macht überhaupt der Europäische Rat? Ob es für Fragen wie diese ein Unterrichtsangebot geben soll, konnte in der Vergangenheit jede Schule selbst entscheiden. Seit diesem Schuljahr gehören nun in allen finnischen Gymnasien Europa-Kurse zum Pflichtangebot im Rahmen des Schwerpunkts Gesellschaftskunde. Die Schüler müssen zwar nicht daran teilnehmen, sie zeigen aber großes Interesse.

Im Nordost-Gymnasium in Helsinki sieht das in der Praxis so aus: In dem Seminarraum, in dem rund 20 Schüler Platz genommen haben, hängen an der Wand ein finnisches Staatswappen, Präsidentenportraits - und ein Europa-Poster. Laura Vuorela, Lehrerin für Gesellschaftskunde, hat eine Diskussion angeregt: Wie bewerten die Schüler die mögliche EU-Mitgliedschaft der Türkei? Was sie zunächst als virtuelle Hausaufgabe im schulinternen Chat-Forum zur Debatte gestellt hat, wird nun in der Klasse rege diskutiert: "Für mich ist die Religion nicht das trennende Argument. Den christlichen und islamischen Glauben verbinden letztlich die gleichen Werte", verteidigt Teemu Rantala einen Beitritt des Landes am Bosporus.

Die in Somalia geborene Mariam Guled hingegen glaubt, dass eine EU-Mitgliedschaft der Türkei für das Land einen Verlust an Identität bedeuten würde: "Ich befürchte, dass wir Moslems uns in der EU allmählich wie verweltlichte Christen kleiden und benehmen werden. Es ist schwer, die eigene Kultur im vereinigten Europa zu bewahren."

EU-Kurse sollen helfen, Europa zu verstehen

Ein lebhafter Austausch von kontroversen Meinungen - genau so hat sich Lehrerin Laura Vuorela das vorgestellt. Die Schüler sollen Behauptungen aufstellen und begründen, "damit man die Probleme möglichst vielseitig betrachten kann", sagt die Lehrerin. In den ersten EU-Kursen behandle sie mit den Schülern vor allem Fragen der europäischen Identität, europäische Werte und auch die Institutionen der Union. "Aber wie die Diskussion über das Thema Türkei zeigt, versuchen wir stets aktuelle Bezüge herzustellen. Vor allem so erreichen wir die Schüler", erklärt sie.

EU Logo EU-Ratspräsidentschaft Finnland
Das Logo der EU-Ratspräsidentschaft soll Wachstum, Entwicklung und gemeinsame Werte symbolisieren

Auch das "Nordost"-Gymnasium in Helsinki bietet zum ersten Mal einen Europa-Kurs an. Die Motive der Schüler, sich für diesen Kurs zu entscheiden, sind unterschiedlich: "Finnland hat zurzeit die Ratspräsidentschaft inne und die EU ist täglich in den Medien präsent. Ich will mehr über die Union wissen, um besser zu verstehen, wovon die Rede ist", erklärt ein Schüler. Einen anderen interessieren eher die Zukunftsvisionen der EU: "Die nächsten 25 Jahre dürften eine kritische Zeit werden. Welche Antwort hat Europa zum Beispiel auf die Wettbewerbsfähigkeit Chinas?"

Ein Vorreiter des Europa-Unterrichts ist das Tapiola-Gymnasium im Süden von Helsinki. Hier werden bereits seit 1995, dem Jahr des finnischen EU-Beitritts, Europa-Kurse angeboten. Gesellschaftskunde-Lehrerin Leena Mäkelä hat den Kurs fast allein aufgebaut - und sieht einen enormen Nachholbedarf an EU-Wissen in der finnischen Bevölkerung: "Ohne Grundkenntnisse über die EU kommt heute niemand mehr zurecht." Trotzdem wüssten die meisten Schüler noch nicht, worum es in der EU wirklich geht. "Sie haben Vorurteile, die vor allem aus Unkenntnis resultieren. Außerdem gibt es viele Legenden über die Union - falsche Geschichten, die immer wieder weitergegeben werden."

Nicht nur Wettbewerb und Effizienz, sondern gemeinsame Werte

Dieser Unkenntnis möchte sie mit dem Kurs "Europakunde und Europäische Union" entgegenwirken, sagt Leena Mäkelä. Neben Grundwissen über Geschichte, Institutionen und Beschlussfassungen der EU legt sie vor allem Wert darauf, den Schülern zu vermitteln, dass die EU auf Gemeinsamkeiten basiert: "Sie sollen verstehen, dass zur europäischen Identität bestimmte gemeinsame Werte wie Gleichberechtigung, Toleranz oder Meinungsfreiheit gehören." Es gehe in der Union eben nicht nur um Wettbewerbsfähigkeit und Effizienz. "Damit die Bürger die EU akzeptieren, muss es auch die soziale Dimension geben."

Seit der Europa-Kurs Pflichtprogramm ist, haben auch die Buchverlage reagiert: Schüler und Lehrer können zwischen drei druckfrischen Schulbüchern auswählen. Endlich stehe den Schulen strukturiertes Wissen über die EU zur Verfügung, zeigt sich Leena Mäkelä erleichtert: "Das war überfällig." Denn die Informationsfülle über die EU sei zwar riesig, aber das allgemeine Informationsmaterial schrecklich. "Schulen können es fast gar nicht gebrauchen, weil es unverständlich und nur schwer lesbar ist."