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Europas junge Mathe-Elite: Bloß kein Geniekomplex!

Helena Kaschel22. Juli 2016

Auf dem Europäischen Mathematiker-Kongress in Berlin trafen sich diese Woche die Superstars des Faches. Die jungen Frauen und Männer werden gefeiert, wollen aber keine Wunderkinder sein.

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Peter Scholze, Mathematiker (Foto: Helena Kaschel)
Peter Scholze, Jahrgang 1987, wurde 2012 auf die renommierte Hausdorff-Professur der Universität Bonn berufenBild: DW/H. Kaschel

Eigentlich hat Peter Scholze keine Zeit. Zehn Minuten, mehr nicht. Wir hocken uns auf eine Treppe vor dem Audimax der TU Berlin. Der 28-Jährige ist freundlich, aber man merkt, dass er sich in einem Hörsaal wohler fühlt als in einer Interviewsituation.

Spätestens seit er mit 24 ohne Habilitation zum jüngsten Professor Deutschlands und mit 27 zum jüngsten Leibniz-Preisträger aller Zeiten wurde, ist nicht nur die akademische, sondern auch die Medienwelt auf ihn aufmerksam geworden.

Jetzt, vier Jahre später, zeichnet ihn die European Mathematical Society (EMS) auf dem 7. Europäischen Mathematiker-Kongress für seine Vorstöße auf dem Gebiet der arithmetisch-algebraischen Geometrie aus. Auf dem Familientreffen der Mathe-Koryphäen mit 1300 Teilnehmern gilt Scholze als einer der Großen.

"Ich bin nicht der Meinung, dass man bei Mathematik immer alles verstehen muss"

Junge Mathematiker auf dem Europäischen Mathematiker-Kongress
Der Europäische Mathematiker-Kongress findet alle vier Jahre statt. Dieses Jahr kamen 1300 Forscher aus 80 LändernBild: DW/H. Kaschel

"Ich schaffe es nicht einmal Mathematikern zu erklären, was ich gerade mache", lacht Scholze. Nach seinem Vortrag über die von ihm eingeführte Technik der Perfektoid-Räume hätten viele Kollegen gesagt, sie seien nach der Hälfte ausgestiegen. Auf Beileid antwortet er mit Achselzucken.

"Ich bin prinzipiell nicht der Meinung, dass man bei Mathematik immer alles verstehen muss", sagt er. "Gerd Faltings, der einzige deutsche Träger der Fields-Medaille, hält in Bonn jedes Semester eine Vorlesung über arithmetische Geometrie. Da bin ich als Student immer hingegangen und ich habe damals nie etwas verstanden. Aber im Nachhinein muss ich sagen, dass ich dort unglaublich viel gelernt habe. Ich habe den Eindruck, dass oft behauptet wird, bestimmte Teile eines Vortrags seien sinnlos, wenn man nicht sofort alles versteht."

Überholte Vorstellung des 'einsamen Genies'

Dieses Missverständnis findet auch James Maynard frustrierend. Der 29-jährige Zahlentheoretiker forscht an der Universität Oxford und hat neben Peter Scholze einen der zehn EMS-Nachwuchspreise bekommen. Obwohl auch er als Ausnahmetalent umjubelt wird, hält er wenig von der Idee, Mathematik sei nur etwas für hochintelligente Auserwählte.

"Es ist schade, dass Mathe den Ruf hat, unzugänglich zu sein", sagt Maynard, "ich glaube, die Vorstellung des 'einsamen Genies' kann unserem Fach ganz schön schaden."

James Maynard, Mathematiker (Foto: Helena Kaschel)
Drei akademische Grade, drei renommierte Preise, und trotzdem auf dem Boden geblieben: James MaynardBild: DW/H. Kaschel

James Maynards Spezialgebiet ist eines der großen Rätsel der Mathematik: Primzahlen. "Einige der grundlegenden Fragen, die wir uns über sie stellen, stehen schon seit Jahrtausenden im Raum" - das fasziniere ihn. Seine Antwort auf die Frage, was ihm an seinem Fach am meisten gefällt, könnte selbst den größten Mathematik-Hasser überzeugen, dass Stochastik und Kurvendiskussionen etwas wunderschönes sind:

"In gewisser Hinsicht bin ich immer noch ein Kind, das Logik-Spiele mag. Nur, dass mich Menschen jetzt dafür bezahlen", lacht er. "Der Reiz an Mathematik ist, dass sie alles durchdringt. Du kannst von deinem Schreibtisch aus allein mit Logik und einem Stück Papier grundlegende Fragen über das Universum beantworten."

Flucht aus Teheran: "Mathematik war eine Sprache, die ich verstand"

Sarah Zahedi ist die einzige Frau unter den jungen EMS-Preisträgern. Die gebürtige Iranerin ist seit 2014 Assistenzprofessorin an der Königlich-Technischen Hochschule in Stockholm. Dort entwickelt die 34-Jährige Methoden, um bewegliche Flächen, wie etwa die Schnittstelle zwischen zwei Flüssigkeiten, zu berechnen und am Computer nachzubilden. Ihre Forschungsergebnisse könnten in naher Zukunft genutzt werden, um die Chips zu verbessern, die immer häufiger bei Bluttests zum Einsatz kommen.

Sara Zahedi, Mathematikerin (Foto: Helena Kaschel)
Sara Zahedi hofft, dass Softwareunternehmen bald auf ihre computergestützten Methoden aufmerksam werdenBild: DW/H. Kaschel

Heute sind es diese praktischen Anwendungsmöglichkeiten, die Zahedi an ihrem Fach begeistern, aber Mathematik war schon immer ein wichtiger Teil ihres Lebens. Ihr Vater wurde im Iran getötet, die Familie musste fliehen. Mit zehn Jahren kam Zahedi - zunächst als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling - nach Schweden. "Ich kannte niemanden und konnte kein Schwedisch, aber Mathematik war eine Sprache, die ich verstand. Im Matheunterricht konnte ich mit anderen Schülern kommunizieren und Freunde finden."

Wie ihre Kollegen Peter Scholze und James Maynard glaubt auch Sara Zahedi, dass grundsätzlich jeder die Voraussetzungen mitbringt, um Mathematik zu verstehen. Dass ihr Fach viele abschreckt, habe auch damit zu tun, dass Mathematiker nicht genug kommunizieren würden. "Wir müssten viel mehr auf junge Altersgruppen zugehen und zeigen, wie Mathematik in der realen Welt angewendet wird. Ich finde auch, dass Programmieren ein Schulfach sein sollte", fordert Zahedi.