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Diskussion: Europas Werte und die Grenzen

Sabine Peschel9. Mai 2016

"GrenzenNiederSchreiben" lautet das kämpferische Motto der 2. Europäischen Schriftstellerkonferenz. Dreißig Autoren aus dreißig Ländern treffen sich am 9./10. Mai in Berlin, um zu klären, was eigentlich Europa ausmacht.

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"Krispy Kreme"-Filiale in Florida (Foto: Getty Images)
Bild: Getty Images/J. Raedle

Eine Reihe war zunächst nicht geplant. Doch als man 2014, nach dem ersten unter der Ägide von Außenminister Steinmeier veranstalteten Zusammentreffen europäischer Schriftsteller auseinanderging, war der "Traum von Europa" längst nicht ausgeträumt. Die Diskussion verlangte nach einer Fortsetzung. Was ist Europa, und wo hört es auf? Was sind europäische Werte, und für wen gelten sie? Was können die Worte und Erzählungen von Schriftstellern leisten in Zeiten von wachsendem Nationalismus und zunehmender Fremdenfeindlichkeit?

Die Verständigung über europäische Identitäten und Lebenswelten jenseits politischer und wirtschaftlicher Interessen ist dringend notwendig. Gemeinsam mit Frank-Walter Steinmeier ergriffen deshalb die Autoren Mely Kiyak, Nicol Ljubić, Tilman Spengler und Antje Rávic Strubel erneut die Initiative und luden dreißig Schriftsteller aus ganz Europa nach Berlin ein. Zwei Tage lang diskutieren und lesen sie öffentlich, in der Akademie der Künste und im Deutschen Theater - ein Gespräch in vielen Sprachen, das auch jenseits der Podien intensiv geführt wird.

Die Kluft zwischen Wunsch und Realität

Der Titel sei zunächst eine Aufforderung zur Auseinandersetzung über Grenzen hinweg, eröffnete Außenminister Steinmeier das Gespräch. Dabei gehe es vor allem um jene Grenzen, die nicht sichtbar sind: Unverständnis, Vorurteile, Ressentiments, Abgrenzungen, die immer wieder neue Trennlinien schaffen. "GrenzenNiederSchreiben", das bedeute anzuschreiben gegen "die Grenze zwischen dem Möglichen und dem Wünschbaren, das, was wir heute mit dem Traum Europa hoffentlich immer noch verbinden." Während "ein ganzes Krisengebräu von Finanz- und Wirtschaftskrise, Brexitdebatte und einer Flüchtlingsdebatte, die Europa gehörig unter Stress setzt" hochkoche, sei die Kluft zwischen Traum und Wirklichkeit in Europa heute vielleicht tiefer denn je, resümiert Steinmeier. Er appelliert deshalb an die europäischen Literaten und das, was er für ihre Kernkompetenz hält: "Sie machen die neuen Grenzen zu Ihrem Thema, den Stacheldraht, die Mauern aber auch die Bürokratie. Sie halten uns ein Bild unseres Kontinents vor Augen, in vielen Fragmenten, viel komplexer als die oft simple Darstellung, die wir aus unseren nationalen Debatten und Medien kennen. Wir brauchen den Perspektivwechsel, der unsere Sicht öffnet, auf uns selbst und auf unsere Nachbarn, diesen Blick durch Film, Literatur, Kunst, Theater."

Europäische Schriftstellerkonferenz 2016 in Berlin, Außenminister Steinmeier Copyright: DW/S. Peschel
Außenminister Steinmeier spricht über imaginäre und konkrete Grenzen in EuropaBild: DW/S. Peschel

Hat Europa seine Werte verraten?

"Haben wir unsere Werte angesichts von Ertrinkenden, Lagern und Zäunen nicht längst verraten?, fragt der in Kroatien geborene deutsche Journalist und Autor Nicol Ljubić. Beim Podiumsgespräch um europäische Werte kommt die Diskussion ebenfalls umgehend auf das Thema Flüchtlinge und die ganz konkreten, inzwischen fast unüberwindlich gewordenen Grenzen Europas."Mein persönliches Bild von Europa hat sich nicht grundlegend verändert", entgegnet die Syrerin Kefah Ali Deeb. Die Kinderbuchautorin und Künstlerin, die sich für den demokratischen Wandel in ihrem Heimatland einsetzte, kam 2014 als Asylsuchende nach Berlin. Zweifellos gebe es eine humanitäre Krise in der Welt, nicht nur in Syrien. Die Wertedebatte sieht sie nicht auf Europa beschränkt. Und sie dreht den Spieß um: Sie selber führt in Berlin Besucher durch die assyrischen Kunstsammlungen - und sieht sich immer wieder darin bestätigt, wie sehr die Kunst des Nahen Ostens Teil der europäischen Kultur sei.

Gibt es überhaupt so etwas wie europäische Werte? "Als Estland in die EU aufgenommen wurde, war es für mich so, als ob ich nach Hause käme", erzählt die vielfach preisgekrönte Lyrikerin Doris Kareva. Doch von einer auf Europa beschränkten Wertedebatte will sie nichts wissen. Zentrale Werte wie gegenseitiger Respekt seien universell. "Wir brauchen eine vielfältigere Sichtweise auf die Welt, in der wir leben."

Sprache als Heimat

Shumona Sinha hat mit ihrem wütenden Roman "Erschlagt die Armen" in Frankreich für Furore gesorgt. Sie selber wurde in Kalkutta geboren und lebt seit 2001 in Paris. Nachdem sie ihren Roman über die unerträgliche Realität von Asylsuchenden veröffentlicht hatte, verlor sie ihre Anstellung als Dolmetscherin der französischen Einwanderungsbehörde. Worin besteht für sie die Attraktivität europäischer Werte? "Meine Heimat ist weder Indien noch Frankreich, sondern die französische Sprache", sagt Shumona Sinha. "Aber zu dem, was ich für die Werte Europas halte - Freiheit, Toleranz, Fortschritt, in Deutschland vielleicht auch die Ideologie von Marx und Engels, ein Leben ohne Grenzen und Barrieren - dafür muss man auch das richtige Gesicht haben. Ich werde nie Franzose sein. Das Blut definiert immer noch, wie europäisch du bist." Diesem nüchternen Fazit setzt sie ein poetisches Wunschbild entgegen: "Wo wir doch so allein im Universum sind - ich möchte einen Außerirdischen treffen."

Shumona Sinha, Porträt Copyright: Patrice Normand/Nautilus Verlag
Shumona Sinha hat erlebt, wie es ist, wenn die Fiktion mit der Realität verwechselt wirdBild: Patrice Normand

"Wir haben versagt"

"1990 wollten wir Freiheit, einen Pass zuhause liegen haben, und Gleichberechtigung", erinnert sich die polnische Romanautorin Joanna Bator. Inzwischen müsse die Freiheit wieder gegen eine rechtsnationale Regierung verteidigt werden. "Aber wir als Schriftsteller und Künstler haben versagt. Wir haben nicht übersetzt, was in Syrien passierte, warum die Flüchtlinge zu uns kommen. Wir haben in Polen nicht genügend für die europäischen Werte geworben." Differenzierung gegen Populismus - ist Literatur unweigerlich politisch in Zeiten von Kriegen und Krisen?

Zu viel unterschiedlicher kultureller Input?

Diese Frage stellt sich auch Nir Baram aus Israel, Lawen Mohtadi aus Schweden, Mehmet Yashin aus Zypern und Jonas Lüscher aus der Schweiz, die die schwierige Aufgabe übernahmen, darüber zu sprechen, wieviel Zuzug die Kultur verträgt. Baraman führt den hybriden Zustand der israelischen Kultur an, die sich zunächst als europäische definierte, um sich dann in einem Land, in dem neunzig Prozent der Bevölkerung arabisch sprechen, zu einer noch unstrukturierten "Kultur im Werden" zu wandeln.

Jonas Lüscher wendet sich gegen den provokant negativen Ton der Frage. Sein klares Statement: "Um unsere Kultur zu zerstören, brauchen wir nicht die Migranten. Das schaffen unsere Rechtsnationalen schon selbst." Viel interessanter sei vielleicht die Frage, wie viel Zuzug eine Kultur brauche, damit sie nicht in eine Monokultur versinke. "Die Vielfalt der Kulturen definiert Europa - das muss viel mehr propagiert werden!" Gegen den weit verbreiteten Gedanken, dass die Einwanderung von Menschen aus unterschiedlichen Kulturen und Muttersprachen die bestehende Kultur eines Landes ungünstig beeinflussen würde, fordert er andere politische Narrative, verdeutlicht in einem Bild: "Die diffuse Angst vor dem nicht existenten Monster unterm Bett muss in eine Furcht vor Konkretem verwandelt werden. Dann kann man politisch damit umgehen."

Europäische Schriftstellerkonferenz 2016 in Berlin, Copyright: DW/S. Peschel
Moderator Thomas Böhm, Nir Barman, Lawen Mohtadi, Mehmet Yashin und Jonas Lüscher (v.l.n.r.)Bild: DW/S. Peschel

Literatur als Brücke zwischen Kulturen

Der Tag bleibt einen Annäherung. Was europäische Kultur ausmacht, können auch Autoren aus so vielen Ländern nicht genau definieren. Am schönsten gelingt es ihnen in einem Manifest, das am Nachmittag und Abend des ersten Konferenztages vorgetragen wird. Konzentrische Kreise um das Thema Europa, könnte man die 34 politischen, literarischen oder poetischen Sentenzen der Schriftsteller und Moderatoren nennen. Doris Kareva findet die prägnanteste Formel: "Europa ist ein Archipel voller Wortbrücken."