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Für die EU geht ein Schreckensjahr zu Ende

Bernd Riegert25. Dezember 2005

Gescheiterte Verfassung, Streit ums Geld - in die Geschichte der Europäischen Union wird 2005 das Jahr wohl als "annus horribilis", als Schreckensjahr, eingehen. Bei der Nato herrschte unterdessen business as usual.

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Plakate gegen die EU-Verfassung in FrankreichBild: AP
George W. Bush und Jacques Chirac in Brüssel
Frankreichs Präsident Jacques Chirac und US-Präsident George W. BushBild: AP

Das Jahr beginnt mit einem versöhnlich stimmenden Ereignis: Der amerikanische Präsident George W. Bush besucht am 22. Februar die europäischen Institutionen und die NATO in Brüssel. Zuvor hatte Bundeskanzler Gerhard Schröder verlangt, man müsse mehr über politische Konzepte auf beiden Seiten des Atlantiks sprechen. George Bush betont Gemeinsamkeiten, trotz der unterschiedlichen Ansichten über den Irak-Krieg. "Unsere Freundschaft ist ausschlaggebend für Frieden und Wohlstand rund um die Welt", erklärt er. "Keine temporären Debatten und vorübergehenden Meinungsverschiedenheiten zwischen Regierungen, keine Macht der Erde kann uns trennen."

Selbst den französischen Präsidenten Jacques Chirac nennt George W. Bush einen "guten Cowboy". Der Franzose lächelt angesichts dieser Auszeichnung etwas gequält. Im Juni sprechen Europa und Amerika auf einer Konferenz in Brüssel über die Zukunft des Irak und vereinbaren eine enge Zusammenarbeit.

Jonglieren mit den Schulden

Am 20. März gelingt Bundesfinanzminister Hans Eichel das Kunststück, an dem er seit Jahren gefeilt hat. Die Finanzminister der EU reformieren - viele sagen: verwässern - den Pakt, der die Gemeinschaftswährung, den Euro, stabil halten soll. Fortan soll es mehr Ausnahmen von der strikten Regel "höchstens drei Prozent Neuverschuldung" geben. Entsprechend zufrieden ist Eichel: "Ich kämpfe seit drei Jahren gegen die Praxis der Kommission, nicht zu prüfen und nur den Rechenschieber zu nehmen, drei Prozent zu messen und zu sagen: Defizitverfahren und dann Sanktionen."

Hans Eichel wird nach der Bundestagswahl im Herbst abgelöst. Als neuer Bundesfinanzminister erbt Peer Steinbrück das Problem der chronischen Verletzung der Defizit-Obergrenze. Er bittet bei der EU-Kommission um neuerlichen Aufschub und Milde. 2007 will er die Schuldengrenze wieder beachten, nachdem Deutschland dann fünfmal in Folge den Stabilitätspakt gebrochen haben wird, den es selbst mit ersonnen hat.

Zerplatzte Träume

Aber neben dem verdrießlichen Finanzthema gibt es 2005 auch Erfreuliches: Am 25. April geht für Bulgarien und Rumänien ein Traum in Erfüllung. Die Staats- und Regierungschef unterzeichnen in Luxemburg feierlich die Beitrittsverträge zur Union. Rumäniens Präsident Trajan Basescu: "Nach Jalta, wo niemand uns gefragt hat, was wir wollen, unterzeichnen wir heute einen Vertrag, der uns zurück nach Europa bringt. Vielen Dank, Europa!"

Jahresrückblick 2005 Oktober EU Türkei
Flaggen vor einer Moschee in IstanbulBild: AP

2007 oder spätestens 2008 sollen Bulgarien und Rumänien beitreten. Vorher, so die EU-Kommission, müssen sie noch stärker gegen Korruption und Vetternwirtschaft ankämpfen. Und seit dem 3. Oktober verhandelt die EU offiziell über einen Beitritt der Türkei und Kroatiens - zumindest im Falle der Türkei zeichnet sich ein langwieriger Verhandlungsprozess ab.

Am 29. Mai zerplatzen europäische Träume wie eine Seifenblase. Die französischen Wähler lehnen in einem Referendum die erste Europäische Verfassung ab. Sie sollte der wachsenden EU einen neuen Rahmen geben. Frankreichs Präsident Jacques Chirac ist geschockt: "Es ist sicher, dass Frankreich, sollte es die europäische Entwicklung blockieren, als Konsequenz seine Autorität im zukünftigen Europa einbüßen würde."

Nur Luxemburg sagt ja

Konnte Frankreich noch als Betriebunfall gelten, löst das zweite negative Referendum in den Niederlanden am 1. Juni vollends die Krise aus. Die EU-Gremien waren führungs- und fassungslos. Der luxemburgische Premierminister Jean-Claude Juncker erklärt trotzig: "Der Vertrag ist nicht tot, aber ich muss sagen, er ist auch nicht besonders stark."

Ein drittes Referendum in Luxemburg, mit dem Jean-Claude Juncker sein politisches Schicksal verknüpft, verläuft positiv. Die Luxemburger können nur gewinnen, meint dieser Wahlkämpfer: "Der wichtigste Grund, ja zu Europa zu sagen, ist, dass Luxemburg, als die Europäische Gemeinschaft gegründet wurde, eines der ärmsten Länder war. Wenn man sieht, wie weit wir es heute geschafft haben, meine ich, es ist der richtige Weg, den wollen wir weitergehen."

Haushaltsentwurf scheitert

Die Einstellung der EU-Bürger zu ihrer Union wird zunehmend düsterer, belegen Umfragen. Das Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs am 17. Juni vertieft die Krise noch. Weder auf die Frage nach der Zukunft der Verfassung noch auf die Frage, wie Europa künftig finanziert werden soll, finden die "Häuptlinge" eine Antwort. "Kein guter Tag", sagt Bundeskanzler Gerhard Schröders hinterher. "Wir haben versucht, was in unseren Kräften steht, einen besseren daraus zu machen. Das ist nicht gelungen." Großbritannien, die Niederlande, Schweden, Finnland und Spanien stimmen gegen den Haushaltsentwurf. Vor allem Großbritannien, das auf seinem Beitragsrabatt beharrt, wird heftig als unsolidarisch attackiert.

Die NATO beschließt im Juni, ihren Einsatz in Afghanistan auszuweiten. Im Laufe der Zeit will die Allianz Tausende neuer Soldaten in die unruhige junge Demokratie schicken und die Kontrolle im Norden, Westen und Süden des Landes übernehmen. "Die NATO wusste immer, zusammen mir ihren Partnern, dass dies eine Verpflichtung für lange Zeit ist", erklärt damals NATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer. "Was das in Jahren bedeutet, kann ich nicht sagen. Ich würde sagen, so schnell wie möglich."

Für Ende Januar 2006 setzten NATO, EU, USA und UNO eine weitere internationale Konferenz für Afghanistan an. Die zweite nach der Bonner Petersberg-Konferenz von 2001.

Warten auf Blair

Am 1. Juli übernimmt ausgerechnet Tony Blair, der britische Premierminister, das Amt des EU-Ratspräsidenten. Da er Tage zuvor den geplanten Haushaltskompromiss beim EU-Gipfel platzen ließ, sind die Erwartungen niedrig. Blair fordert in einer flammenden Rede grundlegende Reformen. Brüssel applaudiert und wartet. Wenig konkretes geschieht. Erst ganz am Ende seiner Präsidentschaft wird Tony Blair handeln, denn die Terroranschläge vom 7. Juli und 21. Juli in London erfordern Blairs ganze Aufmerksamkeit. Die EU muss warten.

Am 4. Oktober gelingt es dem britischen Außenminister Jack Straw, nach zähem Ringen erst mit Zypern, dann mit Österreich, dass die EU die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei eröffnen kann. Das Ergebnis sei jedoch offen, beruhigt die österreichische Außenministerin Ursula Plassnik die Türkei-Kritiker zuhause und im Rest Europas: "Am Ende eines sehr langen Verhandlungsprozesses kann es einen Beitritt geben. Es muss aber keinen Beitritt geben. Das ist Bedeutung des Ausdruckes 'keine Garantie' für die Ergebnisse."

Die neue Bundeskanzlerin in Deutschland, Angela Merkel, will eigentlich nur eine priviligierte Partnerschaft für die Türkei, hält sich aber an die von der EU geschlossenen Verträge. Auch Kroatien darf über den Beitritt verhandeln. Mazedonien erhält den Kandidatenstatus.

Dissonanzen wegen CIA-Flügen

Mit neuer Harmonie zwischen den USA und Europa hatte das Jahr begonnen. Es neigt sich mit einer Dissonanz dem Ende zu. Angeblich hat der US-Geheimdienst Gefangene quer durch Europa zu Verhören geflogen, bei denen möglicherweise auch Foltermethoden angewendet wurden. In Polen und Rumänien soll die CIA sogar eigene Gefängnisse betrieben haben.

Die amerikanische Außenministerin Condoleezza Rice besucht am 8. Dezember Brüssel und dementiert: "Ich habe versichert, dass wir weder Flughäfen noch Luftraum genutzt haben, um Gefangene an Orte zu bringen, von denen wir glauben, dort würden sie gefoltert." Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Das Europäische Parlament setzt einen Ausschuss ein, der die CIA-Flüge untersuchen soll.

Überraschender Durchbruch

EU Gipfel Tony Blair
Tony Blair beim EU-Gipfel im DezemberBild: AP

Wie die Rohrspatzen schimpfen Parlamentarier und EU-Kommission auf die britischen EU-Präsidenten. Durch Nichtstun und unmögliche Haushaltsvorschläge sei der EU-Gipfel am 17. Dezember zum Scheitern verurteilt. Die Erwartungen sind niedrig, als Angela Merkel zu ihrem ersten EU-Gipfel als Bundeskanzlerin anreist. Doch überraschend gelingt nach 20 Stunden Dauersitzung der Durchbruch.

Angela Merkel steigt zum "Star" des Gipfels auf, weil sie zwischen den Streithähnen Blair und Chirac vermitteln kann. Der britische Premier eine gibt einen Teil seines Rabatts auf, der französische Präsident stimmt einer Haushalts-Strukturreform, irgendwann in der Zukunft, zu. Der britische Premier Tony Blair gibt freimütig zu, dass er die Haushaltsvorschau bis 2013 für strukturell falsch hält, weil zuviel Geld für Subventionen ausgegeben wird.

Aber, so ruft Blair den Kritikern im eigenen Land und allen Europaskeptikern zu, mehr war zurzeit nicht machbar: "Wir bekommen ein vereinigtes Europa im Osten, nach Jahren der Diktatur. Wir bekommen wirtschaftlichen Aufschwung in Ländern, die wir gefördert haben, wir bekommen eine Reform, die uns ein für alle Mal den Streit um Rabatt und Agrarsubventionen vergessen lässt. Das ist es, was wir bekommen, wenn wir die Gelegenheit beim Schopf packen."

Das Problem Verfassung soll die nun die nächste Präsidentschaft in Österreich richten. Grundsätzlich will die EU 2006 über das Ziel und den Umfang der nächsten Erweiterungsrunde diskutieren.

Verstärkung des außenpolitischen Engagements

Die EU beschließt, die Entwicklungshilfe für Afrika zu verdoppeln und bis 2015 endlich 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens für Entwicklungsländer aufzuwenden. Exportsubventionen für Zucker sollen drastisch gesenkt werden. Auch ihr außenpolitisches Engagement verstärkte die EU: Im indonesischen Aceh wurde eine Friedensmission eingerichtet. Im Sudan unterstützen EU und NATO die Afrikanische Union bei der Befriedung. In Rafah überwacht die EU den ersten Grenzübergang zwischen dem palästinensichen Gazastreifen und Ägypten. Im November wurde der 10. Geburtstag der Zusammenarbeit mit den Mittelmeeranrainer-Staaten gefeiert. Zur Party in Barcelona kamen die Staatschefs jener Länder nicht - eine verpasste Gelegenheit.

Mit afrikanischen Staaten will die EU die Zusammenarbeit verstärken, um die Flüchtlingsbewegungen Richtung Norden zu unterbinden. Auch 2005 starben vermutlich wieder Tausende Afrikaner beim dem Versuch, das Mittelmeer in Richtung Europa zu überqueren.