1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Familiengründung verwehrt

Andrea Moll10. Februar 2003

Die Entschuldigungen kamen für viele Amerikaner völlig überraschend: Mehrere US-Staaten äußerten offiziell ihr Bedauern über eine Praxis, die Männern und Frauen ihre Fortpflanzungsfähigkeit geraubt hatte.

https://p.dw.com/p/3F8z
Zwangssterilisierungen: Ein großes Tabu-Thema in den USABild: AP

Jahrzehntelang wurden in den USA Zwangssterilisierungen vollzogen, ohne dass die breite Öffentlichkeit darüber
informiert war. 33 US-Staaten hatten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Eugenik-Gesetze erlassen - und in vielen Staaten sind sie noch heute (zumindest theoretisch) gültig. Praktisch angewandt wurden sie zuletzt 1979. Die Opfer reichten von geistig Behinderten über Mütter unehelicher Kinder bis zu als "ungezogen" geltenden Teenagern. Nun hat die aktuelle öffentliche Diskussion über genetische Experimente und Manipulationen dem alten Tabu-Thema eine neue Wertigkeit verliehen.

Beispiel

Raymond Hudlow hatte eine wahrhaft schreckliche Jugend: Er wuchs unter der Fuchtel eines gewalttätigen Vaters auf, wurde 1944 als alliierter Soldat in den Zweiten Weltkrieg geschickt und landete schwerverwundet in der Gefangenschaft. Doch noch viel schlimmer war das, was ihm sein eigener Heimatstaat Virginia antat: Kurz vor seinem 18. Geburtstag erklärten ihn Ärzte einer staatlichen Klinik für schwachsinnig und ordneten eine brutale Operation an.

Raymond Hudlow wurde zwangssterilisiert: "Eines Morgens, noch vor Sonnenaufgang, kamen sie in mein Zimmer und zerrten mich aus dem Bett. Sie schnallten mich auf eine Bahre, dann rissen sie mir die Beine auseinander. Sie packten meine Hoden, drückten sie zusammen und rammten zwei Nadeln hinein. Dann machten sie zwei Schnitte. Ich habe wie am Spieß geschrieen und geheult. Und die ganze Zeit hatte ich nicht die geringste Ahnung, was die da eigentlich mit mir anstellten."

Ein jugendlicher Bettnachbar und Leidensgenosse musste ihm damals erklären, dass die Ärzte ihm mit zwei kalten Messerschnitten seine Zeugungsfähigkeit genommen hatten. Doch erst Jahrzehnte später erfuhr der heute 78-Jährige, dass ihn der Eingriff zu einem der etwa 60 - 70.000 Zwangssterilisierungs-Opfern in den USA machte.

Motive

"Eines der größten Tabu-Themen unserer Geschichte", so nennt Historiker Paul Lombardo von der University of Virginia die Eugenik-Bewegung, die Anfang des 20. Jahrhunderts in den USA populär wurde und auch in Deutschland auf großes Interesse stieß.

"Die ersten Zwangssterilisationen in den USA wurden 1907 vorgenommen. Hitler wusste davon. Gemeinsam mit seinen Regierungsmitgliedern verfolgte er die weitere Entwicklung - 1927 gab es einen Präzedenzfall namens Buck vs. Bell, anhand dessen der Oberste Gerichtshof der USA eugenische Zwangssterilisierung für verfassungsgemäß erklärte."

Das Urteil hat zumindest Anregungen für das 1933 verabschiedete deutsche "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" gegeben habe, so Lombardo. Doch anders als Nazi-Deutschland trieben die USA ihre Ideologie nie auf die mörderische Spitze:

"In den meisten US-Staaten konzentrierte man sich anfangs auf Verbrecher - man ging davon aus, dass ihr Hang zur Kriminalität erblich war. Der Grundgedanke lautete: Wenn man sie unfruchtbar machte, konnten sie diese Tendenzen nicht an ihre Kinder weitervererben. Später sterilisierte man auch viele Frauen, die man für moralisch verwerflich hielt: Frauen mit unehelichen Kindern, Prostituierte, im Grunde alle, die einen als anormal und asozial erachteten Lebenswandel führten."

Missbrauch

Die meisten Sterilisierungsopfer waren Insassen psychatrischer Einrichtungen. In Ermangelung trifftiger Einweisungsgründe wurde gern die Pauschaldiagnose "erblicher Schwachsinn" gestellt - damals ein Freibrief für Zwangssterilisierung und Zwangsarbeit.

Diese Erfahrung musste auch der heute 80-jährige Jesse Meadows machen, nachdem seine Familie ihn wegen angeblicher Brandstiftung einweisen liess.

"Sie behielten mich 20 Monate dort. Ich musste täglich die Betten machen, die Klinik in Schuss halten und streichen. Dann haben sie mich an alle möglichen Kunden als Maler verdingt: Sie zahlten mir 25 Cents die Woche; die anderen Anstreicher in der Kolonne bekamen 200 Dollar pro Woche."

Die Klinikleitung stellte ihn vor die Wahl: Zwangssterilisierung - oder lebenslanger Anstaltsarrest. Jesse Meadows gab dem Druck schliesslich nach. 1940 wurde auch er sterilisiert. Ein Eingriff, den er weder vergessen noch vergeben kann.

Derzeit berät das Staatsparlament von Virginia über eine mögliche finanzielle Wiedergutmachung. Doch Raymond Hudlow lehnt dies ab: Niemand könne ihn schließlich für den Verlust entschädigen, den er im Namen der US-Eugenikgesetze erlitt: nämlich den Verlust der Fähigkeit, jemals eine Familie zu gründen.