1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Fatale Untätigkeit

Mathias von Hein29. April 2003

Die Schlagzeilen über SARS reißen nicht ab: Taiwan will Reisende aus China bei der Einreise in Quarantäne zu nehmen. In China soll hektischer Aktionismus das Vertrauen zurückgewinnen. Mathias von Hein kommentiert.

https://p.dw.com/p/3aG6

Als Anfang März die neue chinesische Führung vom Nationalen Volkskongress bestätigt wurde, lagen in Pekinger Krankenhäusern bereits die erstens SARS-Patienten. Erfahren durfte die Öffentlichkeit davon nichts. Optimismus und Aufbruch - das waren die Signale, die von Peking ausgehen sollten. Dafür griffen die Verantwortlichen zum klassischen Instrumentarium des diktatorischen Ein-Parteien-Staats: Verschweigen, Vertuschen, Verharmlosen.

Damit wurde wertvolle Zeit verloren. Der bereits im November 2002 erstmals in Südchina aufgetretene Virus konnte sich weiter unter der hochmobilen chinesischen Bevölkerung ausbreiten. Sicherheit und Stabilität, offiziell Hauptanliegen der Regierung in Peking, hat dieselbe Regierung mit ihrer restriktiven Informationspolitik erst recht gefährdet. Die Auswirkungen auf die nationale Psyche und auf die Einstellung der Bürger zu ihrem Staat sind beträchtlich. Das reicht von der Hysterie, die Dorfbewohner dazu bringt, allen Fremden den Zutritt zu ihrem Dorf zu verwehren, bis zu einer tief sitzende Vertrauenskrise. Nachdem die chinesische Öffentlichkeit monatelang belogen wurde, steckt der Zweifel tief, ob sie jetzt wirklich umfassend informiert wird. Dass die chinesische Presse vor allem im Stil von Heldengeschichten über den Kampf gegen SARS berichtet, dürfte diese Zweifel kaum zerstreuen.

Stattdessen blühen die Gerüchte. Dass die bisherige Desinformation dafür einen fruchtbaren Boden bereitete, lässt sich an den haarsträubenden Spekulationen ablesen, die über E-Mails und per SMS verbreitet werden: Dazu gehört die Ansicht, der SARS-Virus sei eine Schöpfung der chinesischen Biowaffenforschung. Panikstimmung macht sich breit. Die Menschen verlassen ihre Wohnungen nur noch, um Hamsterkäufe zu tätigen.

Immerhin hat die Regierung nach ihrer Flucht nach vorne am Osterwochenende ihren ganzen Apparat in Gang gesetzt, um der Seuche Herr zu werden. Inspektionsteams wurden in die Provinzen entsandt. Das genauere Hinsehen hatte Folgen. Mittlerweile hat man in 27 der insgesamt 30 chinesischen Provinzen SARS-Fälle entdeckt. Und das beleuchtet das brennendste Problem bei SARS: Wie können bei über 100 Millionen Wanderarbeitern, die zumeist aus den ärmeren Inlandsprovinzen kommen, diese Regionen vor der Seuche geschützt werden? Denn in den ländlichen Regionen, der Heimat von 800 Millionen Chinesen, gibt es kein Gesundheitssystem, das die Ausbreitung der Seuche stoppen könnte.

Die Wirtschaft des Landes ist schon jetzt schwer getroffen. Hatte China im ersten Quartal noch mit einem Wachstum von 9,9 Prozent die Rolle der Konjunkturlokomotive für die lahmende Weltwirtschaft übernommen, werden die Zahlen jetzt nach unten korrigiert. China aber braucht ein Wachstum von mindestens sieben Prozent, um auch nur annähernd genug Arbeitsplätze für die Menschen zu schaffen, die neu auf den Arbeitsmarkt drängen, oder die durch die Modernisierung der maroden Staatsbetriebe ihren Job verlieren. Dazu kommen jetzt die immensen Kosten für die Behandlung von Kranken und für die Quarantänemassnahmen für Verdachtsfälle. Kosten, die selbst das Gesundheitssystem eines entwickelten Landes an die Grenzen seiner Kapazität bringen würden.

Nach ihrer ideologischen Aushöhlung bleibt der Kommunistischen Partei Chinas als letzte Legitimationsgrundlage lediglich das Versprechen, für ausreichend Arbeit und damit für soziale Stabilität zu sorgen. Die Erfüllung dieses Versprechens ist jetzt fragwürdiger denn je.