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Reisebusse im Fünf-Minuten-Takt

Oliver Sallet, Wegscheid2. November 2015

Bei Wegscheid in Niederbayern überqueren täglich mehr als 2000 Flüchtlinge die Grenze von Österreich nach Deutschland. Auf beiden Seiten sind Behörden und freiwillige Helfer überfordert. Oliver Sallet berichtet.

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Grenzübergang Wegscheid (Foto: dpa)
Ziel Bayern: Grenzübergang WegscheidBild: picture-alliance/dpa/S. Kahnert

Die "letzte Bratwurst vor der Grenze" gibt es hier und auch die original "Bayern-Pizza". Doch der Blick in den "Western Saloon Oklahoma" verrät: Wurst gibt es hier schon seit Tagen nicht mehr. Drinnen stehen die Stühle auf den Tischen. Gegenüber bellen die Hunde beim "Deutsche Schäferhunde SV" - und draußen warten die weiß-blauen Busse der Bundespolizei auf die neu angekommenen Flüchtlinge. So sieht er aus, der Alltag am Grenzübergang Wegscheid. Eine idyllische Marktgemeinde im südlichen Bayerischen Wald, die jetzt zum Schauplatz der Flüchtlingskrise geworden ist.

Eine zweispurige Brücke trennt Wegscheid von Hanging in Oberösterreich. Mehrere hundert Flüchtlinge lässt die österreichische Polizei dort gerade aufstellen. Nach stundenlangem Warten sollen sie jetzt nach Deutschland einreisen dürfen. Mit einem Megaphon und orangefarbener Warnweste versucht der freiwillige Helfer Mansour Rastegar die Ordnung zu bewahren. "We go in two lines please", ruft er auf Englisch, danach noch auf Farsi und Arabisch. Ansonsten spricht der gebürtige Iraner deutsch mit oberösterreichischem Akzent, die Botschaft aber ist die Gleiche: Ruhe bewahren.

Flüchtlinge an der deutsch-österreichischen Grenze (Foto: DW)
Flüchtlinge lassen Österreich hinter sichBild: DW/O. Sallet

Es wird "irgendwann auch explodieren"

Doch die Absprachen stimmen nicht, sagt Rastegar, der an diesem Tag 14 Stunden lang vermittelt, übersetzt, organisiert. "Wir wissen fast nie wie viele Busse ankommen werden und die deutschen Polizisten wissen das auch nicht." Klar ist: es werden immer mehr. Hinter ihm stehen die Busse mehrere hundert Meter die Landstraße entlang. Einer nach dem anderen öffnet die Türen, heraus strömen erschöpfte Menschen, die nur noch ankommen wollen, nach Tagen auf der gefährlichen Balkan-Route. Ohne Dach über dem Kopf, dafür mit Angst vor der Zukunft.

1400 Menschen warten inzwischen auf die Weiterreise nach Deutschland. Steffen Herzog von der deutschen Bundespolizei beobachtet das Treiben und macht sich Sorgen. Es wird dunkel und noch immer kommen Reisebusse im Fünf-Minuten-Takt an. 20 haben die österreichischen Behörden am Morgen angekündigt, inzwischen sind es doppelt so viele. Die Schlange auf der Brücke wird länger und auch der Frust bei den Polizisten. Viele von Herzogs Kollegen empfinden das Prozedere als österreichische Provokation. Seine größte Sorge ist eine Massenpanik. "Wo viele Menschen zusammengepfercht werden, wird es irgendwann auch explodieren", sagt Herzog. Oft kommt es zu Gedränge, mittendrin sind kleine Kinder.

Stundenlanges Warten für Gemüsesuppe

Die grüne Grenze bei Hanging ist kein Ort an dem man über Nacht bleiben will. "Ganze Familien werden da einfach rausgelassen und stehen dann nachts in der Kälte", sagt der Bürgermeister von Wegscheid, Josef Lamperstorfer, und nennt das Vorgehen der Österreicher "eine Sauerei". Tagelang mussten hier mehrere hundert Flüchtlinge auf einer Wiese schlafen. Mehr als ein Dutzend Feuerstellen erinnern an die kalten Nächte, bei Sprühregen und Temperaturen um die fünf Grad Celsius. Besorgte Bauern brachten den Flüchtlingen Feuerholz. Lamperstorfer hält das Lager an der Grenze für Irrsinn und fordert direkte Busverbindungen in deutsche Erstaufnahmelager. Ohne Zwischenstopp an einer Grenze, die es laut Schengen-Abkommen eigentlich gar nicht mehr gibt.

Flüchtlinge an der deutsch-österreichischen Grenze (Foto: DW)
"Irrsinn": Flüchtlinge auf WieseBild: DW/O. Sallet

Unter freiem Himmel muss inzwischen niemand mehr schlafen. Nach großer Kritik hat das österreichische Rote Kreuz ein beheizbares Zelt für bis zu 2000 Menschen aufgebaut, auf einer Wiese auf der österreichischen Seite. Drinnen läuft die Essensausgabe. Einhundert Meter lang ist die Schlange, drei Stunden müssen die Flüchtlinge anstehen für einen Teller Gemüsesuppe. Dazu gibt es eine halbe Banane und eine Scheibe ungetoastetes Weißbrot. Es reiche einfach nicht, sagt die Helferin Tanja Thaler, während sie mit ihren blauen Plastikhandschuhen Suppe in weiße Plastikschälchen schüttet. Die Suppe kommt vom nahen Krankenhaus und musste zuvor noch mit Wasser gestreckt werden, damit sie ausreicht. Satt wird man davon nicht, deshalb ist sie und ihr Freund am Tag zuvor in die nächsten Supermärkte gefahren und hat um altes Brot gebettelt.

Flüchtlinge an der deutsch-österreichischen Grenze (Foto: dpa)
Endlich in der Wärme: Schutzsuchende im ZeltBild: picture-alliance/dpa/A. Weigel

Professionelle Organisation? Fehlanzeige.

Es sind Freiwillige wie Tanja Thaler, die den Betrieb am Laufen halten. An den Wochenenden kommt sie aus dem zwei Stunden entfernten München um mit anzupacken. Das hat sie auch schon während der Flüchtlingskrise am Münchner Hauptbahnhof getan. "Anders als in München fehlt es hier jedoch an Organisation", sagt sie. Die Behörden würden hier nur das Nötigste tun. "Die schieben die Verantwortung von sich weg."

"Privates Engagement ist gut", sagt ihr Freund Werner Prechtl, aber so gehe das jetzt schon seit einer Woche. Sie wünschen sich, dass Deutschland sich stärker einsetzt. Die Bundeswehr solle kommen, eine Feldküche stellen und logistisches Knowhow. Auch die grenzübergreifende Zusammenarbeit müsste verbessert werden. Das findet auch Mansour Rastegar. Fehlende Absprachen führen zu Unsicherheit. "Wenn wir als Helfer unsicher sind, können wir die Flüchtlinge auch nicht beruhigen."

In einem Punkt sind sich hier beide Seiten einig: die Grenze zu schließen, wie es der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer gefordert hat, würde die Situation an der deutsch-österreichischen Grenze kaum verbessern. Die Flüchtlinge würden wohl einen anderen Weg finden, allerdings ohne beheizte Zelte und Notversorgung durch das Rote Kreuz.

Ein Szenario, das hier vielen Angst macht. Bei Schnee und Minustemperaturen würde dann eine humanitäre Katastrophe drohen.