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Fluch oder Segen?

18. August 2009

Das Freihandelsabkommen NAFTA steht nach 15 Jahren auf dem Prüfstand. Auf beiden Seiten der Grenze verlangen Kritiker Nachbesserungen.

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1994 trat das Nordamerikanische Freihandelsabkommen in Kraft
1994 trat das Nordamerikanische Freihandelsabkommen in KraftBild: AP

Riesige Turbinen mit mehreren Metern Durchmesser liegen auf stabilen Transportwagen, direkt daneben stehen Regale mit den Einzelteilen: Schrauben, Rohre, Rotorblätter. In der großen Halle der Firma Solar Turbines in San Diego werden Turbinen hergestellt. Sie sorgen dafür, dass Universitäten, Krankenhäuser und ganze Städte mit Gas versorgt werden.

Produziert wird für den heimischen Markt, aber es wird auch exportiert, in die ganze Welt. "Alle diese Teile werden in unserem Werk in Mexiko gefertigt,“ erklärt Werksleiter Steven Kewley. „Wenn ein Arbeiter hier eines dieser Standardteile braucht, dann zieht er es über diesen Scanner. Dadurch wird ein Signal nach Mexiko geschickt. Innerhalb von 24 Stunden liegt dann das gleiche Teil hier wieder zum Verarbeiten bereit.“

Montagehalle von Solar Turbines in San Diego - die Einzelteile werden in Mexiko produziert
Montagehalle von Solar Turbines in San Diego - die Einzelteile werden in Mexiko produziertBild: Solar Turbines

Standortvorteil Grenze

Solar Turbines gehört zu den Firmen, die auf beiden Seiten der US-mexikanischen Grenze produzieren. Im Hauptquartier in San Diego arbeiten 3100 Angestellte und sorgen für Zusammenbau und Vertrieb. Im Süden, in Mexiko, fertigen knapp 900 Arbeiter die Einzelteile an.

Diese Arbeitsteilung bringt einen wichtigen Standortvorteil, denn die Arbeitskräfte in Mexiko sind wesentlich preiswerter als nördlich der Grenze. Firmenchef Steve Gosselin ist überzeugt, "dass wir nicht annähernd so erfolgreich wären, wenn wir nicht die Möglichkeit hätten, die Kompetenzen der beiden Werke zu kombinieren. Unsere Arbeitskräfte in Mexiko sind ein Schlüssel zu unserem Erfolg.“ Steve Gosselin hält NAFTA deswegen für ein gutes Abkommen.

Waren im Wert von mehr als 200 Milliarden US Dollar flossen im vergangenen Jahr aus Mexiko in Richtung USA. Jerry Sanders, Bürgermeister von San Diego, wünscht sich, dass der Handel noch leichter wird. "Wenn wir NAFTA neu verhandeln, dann müssen die Grenzen noch offener werden", fordert er. "Wir müssen eine sichere Grenze garantieren können, aber wir müssen den Grenzverkehr noch flüssiger machen. Es ist wichtig, dass wir das Gebiet als eine Region betrachten.“

Im Moment ist der Grenzübertritt vor allem in Richtung USA mit stundenlanger Wartezeit verbunden. 60.000 Arbeitsplätze, schätzt Bürgermeister Sanders, kostet die Verzögerung in jedem Jahr.

Lange Warteschlangen am Grenzübergang von Mexiko in die USA in Tijuana
Wer von Mexiko in die USA einreisen will muss stundenlange Wartezeiten in Kauf nehmenBild: Christina Bergmann

Schikanen sind Alltag an der Grenze

Saúl García Huerta erlebt diese Probleme regelmäßig am eigenen Leib, wenn er die Grenze von der Seite der mexikanischen Stadt Tijuana überqueren muss. Er leitet das mexikanische Werk der japanischen Firma Kyocera, die ebenfalls die us-mexikanische Region für ihre Produktion nutzt. "Bei NAFTA geht es ja nur um die Handelsbeziehung und nicht um den tatsächlichen Grenzübertritt", stellt García Huerta nüchtern fest. "Egal, welches Handelsabkommen die USA und Mexiko vereinbaren, beide Seiten werden nie auf eine Grenzsicherung verzichten. Wenn die Grenzpolizei es für nötig hält, werden sie die Leute immer wieder drei oder vier Stunden lang festhalten … um die Grenze zu sichern.“

Das wird zunehmend auch in Richtung Süden gelten. Denn die USA und Mexiko wollen gegen den Waffenschmuggel aus den USA vorgehen, der bisher durch den ungehinderten Grenzübertritt nach Mexiko möglich ist.

Arbeit unter menschenunwürdigen Bedingungen

Doch nicht nur die lange Wartezeit an der Grenze ist ein Problem. Seit vielen Jahren kritisieren Menschenrechtler und Gewerkschafter die Arbeitsbedingungen, unter denen die Menschen in Mexiko in den sogenannten „Maquiladoras“ die Waren für den US-amerikanischen Markt herstellen müssen. Für Saúl García Huerta sind die Maquiladoras eine gute Sache. Sie bieten den Menschen Arbeitsmöglichkeiten, sagt er. "Wir können unsere Kinder in die Schule schicken, haben ein Haus, ein Auto, genug zu essen. Dafür arbeiten wir hart in den Maquiladoras, die es in Tijuana gibt.“

Es geht den Menschenrechtlern jedoch nicht um die harte Arbeit, sondern um die zum Teil menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen. Der Fotograf Fred Lonidier beschäftigt sich seit mehreren Jahrzehnten mit der Arbeiterbewegung in Kalifornien, seit einigen Jahren lebt er in San Diego. Der Zugang zu den Maquiladoras auf der mexikanischen Seite sei sehr schwer bis unmöglich, sagt er.

Aber die Probleme seien dokumentiert: Die Menschen, zumeist Frauen, arbeiten für wenig Geld unter gesundheitsschädlichen Bedingungen. Sie hätten keine Schutzkleidung, müssten mit giftigen Chemikalien hantieren, wüssten nicht, worum es sicht handelt. "Ich habe mit Arbeitern gesprochen, die sagen, dass sie oft nach der Arbeit krank werden, dass sie sich Gedanken machen über die Langzeitfolgen für ihre Gesundheit. Manchmal werden die Menschen auch bei der Arbeit verletzt. Schlimmer noch ist aber, dass sie nicht wissen, womit sie da hantieren. Die Anleitungen sind in Englisch und das verstehen sie nicht. Und wenn sie ihre Arbeitgeber fragen, bekommen sie keine Antwort.“

Wohlstand für eine Minderheit

Professor Jorge Vargas von der Universität San Diego
Jorge Vargas von der Universität San Diego fordert von den USA einen Marshall-Plan für MexikoBild: Tim Mantoani

Auch Jorge Vargas, von der Universität von San Diego, findet die Situation in den Maquiladoras unhaltbar. Der renommierte Rechtsprofessor ist in Mexiko geboren und hat die mexikanische Regierung in vielen internationalen Verhandlungen und auch an den Vereinten Nationen vertreten. Inzwischen lebt und lehrt er in den USA und ist US-amerikanischer Staatsbürger.

NAFTA, sagt Vargas, habe nur für einige wenige Mexikaner Wohlstand gebracht. Nach offiziellen Angaben der mexikanischen Regierung leben mehr als 40 Prozent der Mexikaner in Armut, 20 Prozent müssen mit weniger als 2 Dollar am Tag auskommen. "Wenn Mexiko einen Plan entwickeln würde, bei dem ausländische Investoren zur industriellen und technologischen Entwicklung des Landes beitragen, und gleichzeitig zusammen mit mexikanischen Firmen und der mexikanischen Regierung die technische und wissenschaftliche Ausbildung der Menschen fördern, und das Ausbildungsniveau der Menschen in Mexiko anheben, dann wird Mexiko international ein glänzendes Bild abgeben.“

Mashall-Plan für Mexiko

Doch Mexiko sei dabei auf die Unterstützung seines nördlichen Nachbarn angewiesen, sagt der Rechtsprofessor. Das Handelsabkommen NAFTA sei nicht mehr aktuell. Vielmehr müssten sich die USA an ihr Verhalten gegenüber Europa erinnern, als das nach dem zweiten Weltkrieg völlig zerstört war. Es sei an der Zeit, einen Marshall-Plan für Mexiko entwerfen, und zwar so schnell wie möglich, fordert Jorge Vargas. "Worauf warten wir noch? Wollen wir zusehen, wie China massiv in Lateinamerika investiert, vor allem in Brasilien? Dadurch wird eine Situation entstehen, die sich jetzt schon abzeichnet: Dass die USA auf der einen Seite mit China und auf der anderen Seite mit der EU konkurrieren müssen. Wenn die USA überleben wollen, müssen sie nach Süden schauen.“

Doch Vargas macht sich keine Illusionen, dass US-Präsident Barack Obama solch einen Plan in naher Zukunft entwirft. Dazu habe er zu viel zu tun mit der Wirtschaftskrise, der Gesundheitsreform und den Kriegen in Irak, Afghanistan und Pakistan.

Autorin: Christina Bergmann/DW Washington
Redaktion: Mirjam Gehrke