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Flucht oder Expansion?

22. Mai 2002

- Mit dem deutschen Kapital dringen nach Polen dieselben "Krankheitserreger" ein, die eine der stärksten Wirtschaften der Welt geschwächt haben

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Posen, 16.5.2002, WPROST, poln. Rafal A. Ziemkiewicz

In Polen herrscht immer noch die Überzeugung, dass die Deutschen vom Drang nach Osten geprägt sind, und deshalb wird auch die Präsenz des deutschen Kapitals in Polen als eine neue Kolonisation angesehen. Dies ist jedoch eine absurde und veraltete Denkweise, die aus der vergangenen Epoche stammt. Wenn ein Pole einen Deutschen sieht, der sich in seinem Land niederlässt, so kann er darin - aufgrund der eigenen Komplexe und Vorurteile - lediglich eine deutsche Expansion sehen. Ein Pole kommt gar nicht darauf, dass die Deutschen nach Polen flüchten könnten.

Die deutschen Investitionen in Ost- und Mitteleuropa haben aber viel mehr den Charakter einer Flucht als einer Expansion. Es handelt sich dabei nicht nur um die Steuerflucht oder den Versuch, den Sozialabgaben oder auch dem Druck der Gewerkschaft zu entkommen. Die deutschen Betriebe wenden in großem Maße seit langer Zeit die einfachen Entwicklungsmethoden an. Ihre weitere Entwicklung verlangt nach einer Revolution, d.h. nach der Anwendung neuer und komplizierter Technologien sowie nach neuen Formen der Beschäftigung und der Arbeitsgestaltung. Durch die Übersiedlung nach Polen oder in ein anderes postkommunistisches Land lässt sich dies jedoch vermeiden. Um entsprechende Gewinne zu erzielen, reicht es in diesen Staaten nämlich immer noch aus, ein angemessenes Kapital zu investieren und alte, unumstrittene Methoden sowie die traditionsreichen "deutschen Tugenden" anzuwenden.

Stellt also das Kapital, das zu uns aus Deutschland fließt und vor dem uns die National-Radikalen warnen, wirklich eine Bedrohung für uns dar?

Die Gefahr ist sogar noch größer, als sich aus diesen Vorurteilen ableiten lässt, hat aber einen ganz anderen Charakter: Die aus dem eigenen Land flüchtenden Deutschen bringen nämlich zu uns genau das, wovor sie selbst flüchten. Mit dem deutschen Geld dringen nach Polen auch Bakterien ein, und zwar dieselben Krankheitserreger, die imstande waren, die Schwächung einer der einst stärksten Wirtschaften der Welt zu verursachen.

Das, was in der ehemaligen DDR geschah, zeigt, dass diese "Expansion durch die Flucht" keinen wirtschaftlichen Fortschritt mit sich bringt, sondern die vorhandenen Mißstände noch verstärkt. Die deutschen Firmen, die in den durch den Kommunismus heruntergewirtschafteten Ländern an ihre Mitarbeiter einen nur geringen Teil der Sozialleistungen verteilen, die sie selbst genießen, haben den Eindruck, dass sie billig Ruhe für sich selbst gekauft haben. Sie beschäftigen hiesige Akademiker, Schulabsolventen und Manager und lehren sie in einem System zu wirtschaften, das nicht viel wirksamer ist, als das im Kommunismus angewandte System, in dem Innovation, Ideen und Risiko nicht belohnt werden. Sie verzichten also auf all das, was die Grundlage für den wirtschaftlichen Fortschritt im Fernen Osten und in Irland war.

Das deutsche Kapital kann in den nächsten Jahren eine negative Rolle für die Wirtschaft Polens spielen, indem die negativen Muster weit verbreitet werden. Der Einfluß des deutschen Kapitals wird mit Sicherheit genügend stark sein, um die polnischen Politiker durch erfolgreiches Lobbying dazu zu bewegen, solche Entscheidungen zu treffen, die für große, unbewegliche Konzerne von Vorteil sind und nicht für kleine Unternehmen, für Kreativität und Aktivitäten auf dem Markt. (...)

Im Vergleich dazu erscheinen die Visionen, die von einer Verschwörung der revanschistischen deutschen Bankiers, Medienmogule und Großgutsbesitzer handeln und die unter den Zuhörern und Lesern der radikal-nationalen Medien verbreitet werden, als völlig harmlos.

Die deutschen Konzerne, die ihren Mitarbeitern eine soziale Sicherheit bieten und den polnischen Managern eine "traditionelle" Karriere sichern, die mit der Dauer der Betriebszugehörigkeit verbunden ist, können zum Erhalt der kommunistischen Stagnation führen und uns der Chancen berauben, die entwickelten Länder schnell einzuholen.

Das, wovor wir uns fürchten sollen, ist nämlich nicht mit der Germanisierung im Sinne von Bismarck verbunden, sondern mit der Gefahr, aus Polen eine ärmere und schlechtere Kopie Deutschlands zu machen, eine noch schlechtere DDR.

Wir können uns vor dieser Bedrohung nur schützen, wenn wir den wirtschaftlichen Liberalismus wählen und alle Barrieren abschaffen, die die Entwicklung der eigenen wirtschaftlichen Aktivitäten hindern.

Die polnischen Komplexe werden seit Langem mit der geographischen Lage verbunden. Gegenüber dem Osten haben wir den Überlegenheitskomplex und gegenüber dem Westen einen Minderwertigkeitskomplex. Durch unsere nationalen Vorurteile betrachten wir die Russen immer von oben herab (...) und bangen vor der wirtschaftlichen Überlegenheit der Deutschen (...) In unseren Vorstellungen erscheint ein Deutscher entweder als großer Kapitalist oder Großgutsbesitzer, zu dem ein Pole zur Arbeit fährt und von dem er die in seinem Dorf unbekannten Luxusgüter mitbringt.

Der Deutsche - wenn er nach Polen kommt - wird sofort unser Land aufkaufen, kolonisieren und aus uns Knechte machen. Die nationalen Klischees sind in der Regel dumm und dieses Klischee bildet hierbei auch keine Ausnahme.

Deutsche, die uns in der wirtschaftlichen Entwicklung überlegen sind? Um diesen Komplex zu heilen, reicht es aus, in die ehemalige DDR zu reisen. Trotz über einer Billion DM, die in die neuen Länder hineingepumpt wurden, trotz aller polnischen Fehler der Untätigkeit und der Unerreichbarkeit, schneiden wir mindestens genauso ab.

"Die deutsche Lokomotive verliert an Tempo", schreiben seit einiger Zeit besorgt Publizisten aus Westeuropa. In der Tat dauert die Rezession bei unseren westlichen Nachbarn lange genug, um damit aufzuhören, über eine Krise zu sprechen, sondern um die Sache beim Namen zu nennen, das heißt: Niedergang der deutschen Wirtschaft (...)

In den letzten Jahrzehnten haben sich die Deutschen daran gewöhnt, ihr Wirtschaftssystem als das Bestmögliche zu betrachten. Es wird ihnen schwer fallen, die Rolle des sozialen Staates einzuschränken, noch schwerer werden sie sich jedoch mit dem Gedanken anfreunden können, dass die traditionellen deutschen Tugenden (kollektive Zusammenarbeit und Hochwertigkeit) in unserer Welt, in der vor allem Individualismus, Ideenreichtum und Durchsetzungsvermögen zählen, immer weniger gefragt sind.

Zu den wirtschaftlichen Problemen kommen noch die demographischen Probleme. Die seit Jahren sinkenden Geburten- und Todesraten tragen dazu bei, dass das deutsche Volk immer älter wird. Dies bringt die Bedrohung mit sich, dass das System der Sozialversicherungen kollabieren wird. Die Aufrechterhaltung dieses Systems verlangt nach verschiedenen Schätzungen die Aufnahme von 20 bis 40 Millionen Emigranten. Aber es sollten eigentlich noch mehr sein: Die Emigranten werden nämlich von der Wirtschaft gebraucht, die nicht nur selbst Probleme mit der hohen Arbeitslosigkeit hat, sondern in der es an Freiwilligen mangelt, einfache und schlechter bezahlte Arbeit anzunehmen. Die zahlenmäßig große Gruppe der Ankömmlinge kann jedoch eine kulturelle Assimilation ablehnen und sich um so mehr der Unterhaltung der deutschen Rentner entziehen (...).

Die deutsche Expansion nach Polen stellt für die Deutschen also eine Quasi- Erlösung dar. Es ist jedoch schade, dass wir das aus unserer Sicht nicht behaupten können. Das letzte Mal haben die Deutschen eine höhere Technologie zu Beginn des vorigen Jahrhundert nach Polen gebracht, d.h. vor fast einhundert Jahren. (...). (Sta)