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Früher Feinde - heute Familie

Robin Hartmann4. August 2014

In Venezuela trainieren ehemalige Kriminelle mit Jugendlichen Rugby - und tragen so dazu bei, die Kriminalitätsrate signifikant zu senken. Schirmherr des Projekts ist ein Unternehmer mit deutschen Wurzeln.

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Jose Gregorio Arrieta Montilla (Mitte), Kapitän des Alcatraz Rugby Club, mit seinen Söhnen Jose Angel (l.) und Wilkinson (Foto: DW/R. Hartmann) Juli 2014
Bild: DW/R. Hartmann

Es ist kaum zehn Jahre her, da war das verschlafene Nest El Consejo im venezolanischen Bundesstaat Aragua ein Ort der Angst. Bewaffnete Banden bekämpften einander bis aufs Blut und entführten, vergewaltigten und mordeten. Heute ist das Dorf ein landesweit bekanntes Beispiel dafür, wie Sport das Leben und die ganze Gesellschaft auf positive Weise verändern kann - in diesem Fall hieß das Zauberwort Rugby.

Verantwortlich dafür zeichnet Alberto Vollmer, ein Rum-Magnat mit deutschen Wurzeln. Auf seiner Hacienda Santa Teresa lernen Kinder aus dem ganzen Land, ihre Aggressionen auf sportliche Art und Weise abzubauen: Werte wie Bescheidenheit, Respekt und Teamgeist gehören zu den obersten Maximen des Rugby-Spiels. Mit dem "Alcatraz Rugby Club" hat Vollmer 2003 ein Team ins Leben gerufen, in dem mittlerweile etwa 2000 Kinder, Jugendliche und Erwachsene trainieren. Sie stammen längst nicht mehr nur aus Problemvierteln, aber vor allem dort zeigt diese etwas andere Art von Sozialarbeit den größten Erfolg. So hat es ein eierförmiger Ball geschafft, die Mordrate in der Gegend um El Consejo signifikant zu senken: Wurden vor zehn Jahren noch 115 von 100.000 Einwohnern zu Opfern von Gewaltverbrechen, so sind es heute "nur" noch 25 - und wenn es nach Vollmer geht, soll diese Zahl so bald wie möglich bei 0 liegen.

Farmarbeit statt Gefängnis

Die Erfolgsgeschichte dieses ungewöhnlichen Projekts begann ebenso ungewöhnlich - nämlich mit einem Raubüberfall. Eines Nachts brachen Jose Gregorio Arrieta Montilla und seine Bandenmitglieder auf der Hacienda Santa Teresa ein, der junge Mann wurde von der Polizei gestellt. In letzter Sekunde konnte der schockierte Vollmer verhindern, dass die Beamten den Kleinkriminellen an Ort und Stelle hinrichteten - nicht selten löste die Polizei in Venezuela damals auf diese Art "Probleme". Vollmer selbst machte Jose nun ein Angebot: Statt zehn Jahren Gefängnis Arbeit auf seiner Hacienda. Nur wenig später kamen die Beamten auf ihn zu und fragten, ob er denn nicht noch mehr Delinquenten aufnehmen könne. So arbeiteten schon bald die beiden einstmals verfeindeten Gangs aus El Consejo gemeinsam auf der Hacienda Santa Teresa. Auf dem Rugby-Feld lernten sie zudem nach und nach, ihren Hass und ihre Wut aufeinander auf sportliche Weise zu kanalisieren. Aus Feinden wurden erst Arbeitskollegen, dann dank des "Alcatraz Rugby Club" Teammitglieder - und später nicht selten sogar Freunde.

Alberto Vollmer, Initiator des Alcatraz Rugby Club mit seiner Tochter (Foto: Robin Hartmann)
Alberto Vollmer, Initiator des Alcatraz Rugby ClubBild: Robin Hartmann

"Dass das funktioniert hat, erfüllt mich bis heute mit einer Mischung aus Überraschung und Stolz", so Vollmer, der selbst seit 30 Jahren Rugby spielt, ein baumlanger Kerl mit wachen blauen Augen und einem Nussknacker-Händedruck. "Jeder Mensch kann sich ändern, man muss nur an ihn glauben und ihm helfen, sein Potential frei zu setzen. Die Gesellschaft zu verändern ist möglich."

Ein Spieler des Alcatraz RC versucht seinen Gegner auf sportliche Weise zu stoppen. (Foto: DW/R. Hrtmann) Juli 2014
Sport als Resozialisiation: ehemalige Kriminelle trainieren mit Jugendlichen RugbyBild: DW/R. Hartmann

Drei bis fünf Millionen Euro hat der Unternehmer laut eigener Aussage bereits in sein Sportprojekt investiert. Die ehemaligen Kriminellen aus seinem Team haben mittlerweile in dem immer noch von Gewalt geplagten Land eine Vorbildfunktion - wie Jose Gregorio Arrieta Montilla, der heute nicht nur Kapitän des "Alcatraz Rugby Club" ist, sondern dank seines Lebenswandels auch studierter Informatiker und stolzer Vater von drei Söhnen. Seine Vergangenheit kommt ihm heute wohl selbst vor wie ein Albtraum, wenn er erzählt: "Die Jüngeren haben damals zu mir aufgeschaut und den Mist nachgemacht, den ich gebaut habe - Raubüberfälle, Schießereien, das ganze Register. Diesen Einfluss habe ich Gott sei dank auch zum Guten nutzen können. Ganz ehrlich, ohne das Team wäre ich selbst heute wahrscheinlich im Knast oder tot." Seine beiden Ältesten, Jose Angel und Wilkinson, sind auch unter den 2000 Nachwuchsspielern - und haben kein Problem damit, dass ihr eigener Vater sie trainiert: "Wir sind stolz darauf, Teil des Teams zu sein."

Sport vermittelt Werte

Die Werte, die der "Alcatraz Rugby Club" verkörpert, sind wie ein Mantra auf der gesamten Hacienda auf Holztafeln angeschlagen: "Bescheidenheit", das oberste Gebot. "Wir spielen fair - und um zu gewinnen", "Wir sind stolz auf das, was wir tun" und nicht zuletzt "Wir verändern unsere Umwelt". Der Rugby-Sport ist mit der Rum-Brennerei Santa Teresa derart eng verknüpft, dass das Firmenmotto lautet: "Jugamos Rugby - Hacemos Ron" - "Wir spielen Rugby und machen Rum". Die Spieler der A-Mannschaft, zu der 35 junge Männer gehören, sind in Venezuela dank großflächiger Plakatierung (und nicht zuletzt wegen eines hervorragenden Rums) mittlerweile sogar zu kleinen Werbe-Ikonen geworden.

Der Alcatraz-Rugby Club hat auch ein Nachwuchs-Team für Mädchen, den Alcatraz RC Feminino. (Foto: DW/R. Hartmann) Juli 2014
Der Alcatraz-Rugby Club hat auch ein Nachwuchs-Team für MädchenBild: DW/R. Hartmann

Längst begeistert der für Zuschauer manchmal etwas archaisch anmutendende Vollkontaktsport nicht mehr nur junge Männer, der "Alcatraz Rugby Club" hat auch mehrere Frauen-Mannschaften. Atalia Hereria ist Kapitänin des "Alcatraz RC Feminino", genau wie ihre Teamkameradin Rosmely Rodriguez ist sie überzeugt: "Wenn ich nicht spielen würde, wäre ich nicht komplett. Das Team ist wie eine zweite Familie für mich geworden, meine Mitspielerinnen sind auch meine Freundinnen und meine Schwestern."

Geringe Rückfallquote

Dabei gab es anfangs viele Zweifel an dem Projekt, berichtet Alberto Vollmer. "Die Leute fanden es merkwürdig, dass wir ehemalige Kriminelle unterstützen. Aber sie wieder auf die Straße loszulassen, wäre doch weitaus schlimmer."Eine Rückfallquote gäbe es kaum, sagt Vollmer, erzählt aber im gleichen Atemzug auch von einem Fall, der ihn anscheinend bis heute betroffen macht: "Da war dieser Junge, ein vielversprechender Spieler, gerade neu im Team. Und dann ist der auf die Straße zurück und hat einen anderen jungen Mann erschossen."Doch auch solche scheinbar hoffnungslosen Fälle lässt Vollmer nicht hängen, der Junge stellte sich mit seiner Hilfe der Polizei. Mittlerweile verhandelt der unermüdliche Sportfan mit verschiedenen Ministerien und der Anti-Drogenbehörde über staatliche Unterstützung, auf die der "Alcatraz Rugby Club" trotz seiner Vorbildfunktion bisher nicht zurück greifen konnte. In den nächsten Jahren will Vollmer aber notfalls auch allein weiter in sein Team und auch die landesweite Infrastruktur des venezolanischen Rugby investieren. "Wir sind jetzt an einem guten Anfang", sagt er. "Aber es gibt noch viel mehr zu tun."