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Franzosen wehren sich gegen Schülerabschiebung

Martina Zimmermann3. Juli 2006

In Umfragen sagen die Franzosen mehrheitlich, es gebe "zuviel Einwanderer". Aber wenn die Mitschüler ihrer Kinder abgeschoben werden sollen, weil sie sich illegal in Frankreich aufhalten, sind die Franzosen solidarisch.

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Etwa 50.000 Schülern droht in Frankreich die AbschiebungBild: AP

Um die Maßgabe des französischen Innenministers Nicolas Sarkozy zu erfüllen, der 50 Prozent mehr Ausweisungen als Ziel vorgab, wurden auch ausländische Schüler abgeschoben. Die ersten Fälle wurden bereits im vergangen Sommer bekannt, und im September 2005 wurde die Abschiebung eines 18jährigen Kameruners in letzter Minute am Flughafen verhindert: Eltern, Lehrer, Mitschüler demonstrierten, die Passagiere weigerten sich, ins Flugzeug zu steigen, das den Jungen nach Duala bringen sollte. Angesichts der sich häufenden Proteste wies der Innenminister für diesen diesem Sommer an, dass alle Kinder ihr Schuljahr beenden können. Doch diese Frist läuft am 30. Juni ab. Immer mehr Eltern, Lehrer und Schulkameraden fürchten um die illegalen Kinder und ihre Eltern.

Nicolas Sarkozy
Frankreichs Innenminister Nicolas SarkozyBild: PA/dpa

"'Mögen sich die Menschen daran erinnern, dass sie Brüder sind': Voltaire unterstützt die Schüler ohne Aufenthaltspapiere". Diese Worte des Denkers prangen von der Banderole am Pariser Lycée Voltaire, wo 1500 Schüler zwischen 10 und 18 Jahren entweder ins Collège oder aufs Gymnasium gehen. In dieser Schule gibt es 30 verschiedene Nationalitäten, und auch viele Einwandererkinder. Die 18jährige Souad geht in die Abiturklasse. Obwohl sie erst vor drei Jahren aus Algerien kam, hat sie schon die Aufnahmeprüfung für die Vorbereitungsklasse einer Eliteuniversität geschafft. Allerdings hat Souad keine Aufenthaltsgenehmigung und kann jederzeit aus Frankreich ausgewiesen werden: "Am Anfang des Schuljahres sagte unsere Klassenlehrerin, dass Schüler, die illegal hier sind, zu einem Treffen kommen sollen. Aber mir fiel es schwer, darüber zu reden. Abends erzählte ich meinem Papa davon, und er hat die Lehrerin kontaktiert."

Etwa 50 000 Kinder sind betroffen

Derzeit weiß man im Lycée Voltaire von drei Schülern, die von einer Abschiebung bedroht sind. In ganz Frankreich sind schätzungsweise 50.000 Kinder betroffen. Eltern und Lehrer setzen sich für sie ein, unterzeichnen Petitionen, helfen bei Behördengängen, manche verstecken ihre Schützlinge sogar vor der Polizei. Der Gymnasiallehrer Michel Gibot hat eine Patenschaft für eine junge Chinesin übernommen. Das Mädchen kam mit 14 nach Frankreich, sprach nach einem Jahr fließend Französisch und schaffte es bis zum Abitur. Auch diese Schülerin ist Kandidatin für eine Eliteuniverstität: "Ich habe das nicht geschafft! Sie schafft das", sagt Gibot. "Schiran ist eine brillante Schülerin, die ihre Studien weitermachen muss. Wir hätten gerne lauter solche Schüler!"

Minderjährige dürfen grundsätzlich nicht ausgewiesen werden. Wenn sie dann aber 18 werden und nicht seit ihrem 13. Lebensjahr in Frankreich wohnen, ist Schluss mit der Toleranz der Behörden. Volljährige Schüler haben nur dann eine Chance, eine Aufenthaltserlaubnis zu bekommen, wenn sie in Frankreich geboren wurden, acht Jahre im Land gelebt haben und fünf Jahre nach ihrem zehnten Lebensjahr in Frankreich in die Schule gegangen sind. Minderjährige Kinder sind allerdings bedroht, wenn sie gemeinsam mit ihren illegalen Eltern ausgewiesen werden können: Nasser stammt aus der algerischen Kabylei. Er kam 2001 mit seiner Frau und zwei Kindern nach Paris, die jüngste Tochter Céline wurde in Frankreich geboren. Alle drei Kinder gehen in Paris zur Schule. "Ich habe am Anfang einen Asylantrag gestellt, der zwei Jahre später abgewiesen wurde. Da gab es für uns kein Zurück mehr, die Kinder gingen hier zur Schule, hatten sich eingewöhnt. Wir blieben, illegal, im Schatten. Als ich es ein zweites Mal versucht habe, haben sie mir einen Ausweisungsbescheid geschickt." Dagegen habe er im Oktober letzten Jahres Berufung eingelegt. Dieser sei nicht stattgegeben worden und auch die zweite Berufung sei abgelehnt worden. Nun hoffe er, dass es mit der neuen Regelung von Sarkozy für ihn und seine Kinder besser werde.

"Sind nicht bereit, unsere Kinder von Gendarmen abführen zu lassen"

Angesichts der Proteste erließ Innenminister Sarkozy vor wenigen Wochen eine Regel, wonach den Familien in bestimmten Fällen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden soll, wenn etwa die Kinder das Herkunftsland gar nicht kennen und nur Französisch sprechen. Doch die vielen komplizierten Regelungen und Gesetze zur Einwanderung öffnen Behördenwillkür Tür und Tor. Der Lehrer Denis Brodard erklärt: "Die Vorstellung, dass in meiner Klasse Schüler sind, die in den Ferien ausgewiesen werden, ist mir unerträglich. Wir wollen, dass sie ihre Schulausbildung normal zu Ende machen. Frankreich ist ihr Land, da gibt es keinen Zweifel."

Frankreich illegale Einwanderung Einbürgerung
Kinder können abgeschoben werden, wenn ihre Eltern sich illegal in Frankreich aufhaltenBild: AP

Auch Michelle Cantat-Merlin, Direktorin der Vorschule Bouvine im elften Pariser Arrondissement, ist erbost über das Vorgehen der Behörden. "Die Polizei kann in die Schule kommen, um die Kinder zu holen. Das ist doch absurd!", sagt sie. "Die Schule soll ein neutraler Ort sein, wo die Kinder geschützt sind. Wir sind nicht bereit, unsere Kinder von Gendarmen abführen zu lassen."

Um die Abschiebung zu verhindern, übernehmen französische Bürger und auch Gemeinderäte, meist aus dem linken Lager, Patenschaften für die von Abschiebung bedrohten Illegalen. Mit höchst offizieller Absegnung, wie im Rathaus des 11. Pariser Arrondissements, wo Bürgermeister Georges Sarre höchstpersönlich die Patenschaft besiegelt: "Die Eltern und die Kinder unterschreiben die Dokumente, ebenso die Patin und der Pate. Ein Exemplar wird im Rathaus behalten, eines bekommt die Familie, jedes Kind, jeder Pate, jede Patin bekommt eines." Darüber hinaus schlagen Lehrer der Organisation "Reseau éducation sans frontières" übers Internet Alarm, sobald neue Fälle bekannt werden.