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Vodou in Haiti

19. Mai 2010

Vodou ist fauler Zauber, bei dem Puppen mit Nadeln durchbohrt werden? Viel mehr als das, sagt Marianne Lehmann. Die Schweizerin hat die größte Vodou-Sammlung der Welt. 350 Stücke werden nun in Berlin ausgestellt.

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Totenkopf aus der Sammlung Lehmann, Foto: Rottscheidt
In Marianne Lehmanns Haus stapeln sich die TotenköpfeBild: DW/Rottscheid

Ganz besonders ärgert sich Marianne Lehmann über "diese blöden amerikanischen Filme": "Schrecklich, diese Püppchen, mit den Nadeln!", empört sie sich. Sie selbst hat so etwas in Haiti noch nie gesehen. "Vodou gilt als primitiv und brutal, Menschen denken an Hexerei, Zombies und Satanisten. Aber die haben keine Ahnung!", entrüstet sich die Schweizerin. Dabei sei der Vodou, die haitianische Version des "Voodoo", vielmehr eine Tradition, die viele gesellschaftliche Funktionen habe und das Zusammenleben regle, erklärt sie. "Vodou ist eine Philosphie! Das muss man jahrelang studieren!"

Gut zu Fuß ist die 73-Jährige nicht mehr, aber wenn sie mit dem großen Schlüssel ihr fliederfarben gestrichenes Haus in der Rue Grégoire in Port-au-Prince aufschließt, bekommt sie lebhafte, glänzende Augen: Das Eisentor klappt quietschend zur Seite, es öffnet sich Madame Lehmanns Reich: eine der größten Sammlungen von Vodou-Kultgegenständen weltweit.

Im Halbdunkel lehnen massive Spiegel mit Schlangenornamenten an der Wand. Kreuz und quer am Boden stehen Kultgegenstände aus der Welt der "Lwas", der Vodou-Götter, es ist kaum ein Durchkommen zwischen gehörnten Fabelwesen, Meerjungfrauen und Heiligenstatuen, einer Indianerbüste, Stühlen und Stelen. Und überall riecht es nach Katzen, Marianne Lehmanns treue Gefährten.

Afrikanische Tradition

Wie in einer Rumpelkammer sieht es im ersten Stock aus: Überall lehnen, liegen und stehen dort dutzende Figuren, so groß wie Kinder, bedeckt von einer Staubschicht. Sie haben rot angemalte Lederhaut und starren mit ihren Spiegeln in den Augenhöhlen seltsam ins Leere: "Das sind Repräsentationen der Götter und die Vodoupriester nehmen sie bei Zeremonien mit", erklärt Marianne Lehmann. Sie entschuldigt dafür, dass die Götter dort so lieblos gestapelt werden: "Wir müssen das alles noch katalogisieren und Platz ist auch kaum noch", sagt sie und fügt fast beiläufig hinzu: "Da sind überall Menschenschädel drin."

Sklaven aus dem westafrikanischen Togo und Benin brachten ihre Religionen im frühen 16. Jahrhundert mit nach "Ayiti", dem "Land der Berge": eine Jahrhunderte alte Götterwelt, die sich aus Naturphänomenen ableitet. Insgesamt umfasst der haitianische Vodou 401 "Lwas", Götter, die durchaus auch schon mal launisch und wütend sein können und daher mit Ritualen und Opfern besänftigt werden müssen.

Identitätsstiftender Kult

Weil der Vodou von den Kolonialherren verboten war, wurde er zur Tarnung mit dem Katholizismus vermischt: Während seine Anhänger sich zum Beispiel vor der Heiligen Jungfrau verneigten, meinten sie in Wirklichkeit Ezili Freda, erklärt Marianne Lehmann. "Die Göttin der Liebe gilt als Inbegriff der Verführung - und als Faulenzerin", sagt sie und fügt augenzwinkernd hinzu: "Anstatt zu arbeiten, steht sie den ganzen Tag vor dem Spiegel."

Für die Sklaven war der Vodou auch eine Form, ihre Identität zu bewahren, Magie und geheime Rituale waren Zeichen des Widerstands. Ohne diesen Kult hätte es auch 1804 die Unabhängigkeit der ersten "schwarzen" Republik nicht gegeben, davon ist Marianne Lehmann überzeugt: Er habe den Sklaven Kraft und den Glauben an den Erfolg ihres Aufstandes gegeben, sagt sie: "So wie wir Schweizer das Rütli haben, hatten die Haitianer den Bois Caïman, wo sich die entlaufenen Sklaven zusammenfanden, um nach einer Vodou-Zeremonie den Aufstand gegen die französischen Kolonialherren zu organisieren."

Marianne Lehmann kam 1957 aus einem Ort bei Bern, zusammen mit ihrem Mann, einem Haitianer. Mit Vodou hatte sie damals nichts zu tun: "Als Frau aus guter Familie schickte es sich nicht", sagt sie. Bis eines Tages ein "Houngan", ein Vodou-Priester vor ihrer Tür stand: "Er zog aus seinem Sack eine kleine Statue, 50 Zentimeter hoch mit drei Hörnen aus Zement, einer Pfeife im Mund, die Hände auf dem Bauch verschränkt und er schaute mich witzig an!", erinnert sie sich. Der Mann brauchte Geld für seine kranke Mutter, Marianne Lehmann konnte nicht widerstehen: "Ich war wie elektrisiert!", sagt sie und kaufte dem Mann die Figur ab.



Liebe auf den ersten Blick

Mit "Papa Bosou", wie Marianne Lehmann den grinsenden Schutzgeist mit den drei Hörnern heute liebevoll nennt, war es Liebe auf den ersten Blick. Es sprach sich in Port-au-Prince herum, dass es bei der damaligen Konsulatsangestellten Geld für Vodou-Kultgegenstände gab. "Danach kamen immer mehr, so dass ich mich manchmal verstecken musste, weil es zuviel wurde!", erinnert sie sich. Tausende andere Götter, Figuren und Ritualgegenstände gesellten sich hinzu, heute verfügt sie über eine der größten Sammlungen weltweit.

Immer noch ist der Vodou zutiefst im Leben der Haitianer verankert: Man versammelt sich beim Priester, um ihn und die Götter um Rat und Hilfe zu bitten, um gemeinsam zu essen und zu trinken, zu tanzen, manchmal in Trance, besessen vom Geist eines Vorfahren und nicht zuletzt, um die Misere des Alltags zu vergessen. Der ehemalige Präsident Jean Bertrand Aristide erhob den Vodou zur Staatsreligion - allerdings vornehmlich, um seine Kritiker aus der Kirche zu schwächen. Mittags im Gottesdienst, abends zur Vodou-Zeremonie: für die Haitianer ist das sowieso kein Widerspruch. 75 Prozent bekennen sich zu ihrem Kult und zum Katholizismus zugleich.

Die Kirche ist ratlos

Die Kirche steht dem etwas unentschlossen gegenüber: Vodou ist Teil der haitianischen Kultur, darum kann sie ihn nicht ignorieren. Man wolle, erklärt Pierre-André Dumas, Bischof der Diözese Anse-à-Veau et Miragoâne, einiges integrieren, etwa durch Trommeln, Gesang und Tanz in den Gottesdiensten. Doch zu viel Inkulturation macht Rom misstrauisch – ein schmaler Grat, auf dem die Kirche dort wandelt, sagt der Bischof. Und so versucht er, die Haitianer davon zu überzeugen, dass seine Religion die bessere ist: "Bei uns muss man keine Opfer bringen!"

Für Marianne Lehmann spielt das keine Rolle. Sie sieht sich nicht als Vodou-Anhängerin, sondern als Bewahrerin der haitianischen Kultur. Ihre Sorge ist, dass die Kultgegenstände irgendwann an Touristen verkauft und so entweiht werden könnten. Und dass ihr kleines, lilafarbenes Haus in der Rue Grégoire langsam aus allen Nähten platzt. Unterstützung vom Staat bekommt sie nicht, denn dem fehlt wie immer das Geld. Dabei sei es so wichtig, dass Haiti endlich ein richtiges eigenes Vodou-Museum bekomme, sagt die Dame, "damit die Menschen erfahren, was Vodou wirklich ist und dass es weder Hexerei noch Scharlatanerie ist."

Autorin: Ina Rottscheidt
Redaktion: Anne Herrberg

Figur aus der Sammlung Lehmann, Foto: Rottscheidt
Vodou: Mit Nadeln durchbohrten Puppen hat das wenig zu tunBild: DW/Rottscheid
Vodou-Zeremonie in Souvenance, Haiti, Foto: Rottscheidt
Über 70 Prozent der Bevölkerung bekennen sich heute zum Vodou-Kult, zugleich sind sie Katholiken: Für die meisten Haitianer ist das kein WiderspruchBild: Rottscheidt
Figurengruppen aus der Bizango-Geheimgesellschaft, Sammlung Marianne Lehmann, Foto: Rottscheidt
Figurengruppen aus der Bizango-GeheimgesellschaftBild: DW/Rottscheid
Marianne Lehmann in ihrem Vodou-Museum in Pétionville, Port-au-Prince, Foto: Rottscheidt
Marianne Lehmann in ihrem Vodou-Museum in Port-au-PrinceBild: DW/Rottscheid