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Fußball, deine Lieder

Bettina Kolb21. Dezember 2002

Sie sind moderne Stammeskrieger. Samstags ziehen sie in die Schlacht. Doch vorher rufen sie die Götter an: die Fußballgötter. Sie wollen ihre Mannschaft gewinnen sehen, deshalb müssen sie singen.

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Grölen für die Spieler: Fußball-FansBild: AP

Der Homo fanaticus – im Volksmund auch Fußballfan genannt – ist überwiegend in der Südkurve der Stadien beheimatet. Sehr oft ist er männlich und in der spielfreien Zeit versteckt er sich an unbekannten Orten. Den kultischen Handlungen unserer Urahnen nicht unähnlich, braucht der Homo fanaticus Maske, Narkotika und Tanz, um richtig in Fahrt zu kommen. Äußere Merkmale sind Schal und Kutte in den Farben seines Vereins. Häufig hält er ein Bier in der Hand, an dem sich diese Gattung oft berauscht und das für glänzende Augen sorgt. Wenn er nicht gerade rhythmisch klatscht oder laut brüllt, dann singt er. Er verfügt über ein Repertoire von 30 bis 50 Liedern. Das ist eine Menge.

Fans von Bayer 04 Leverkusen in Berlin
Fans von Bayer 04 Leverkusen .Bild: AP

Die Entdeckung des Wahnsinns

Entdeckt wurde der Homo fanaticus erst 1998 von den Autoren Reinhard Kopiez und Guido Brink. Im Stadion, als sie für ihr Buch "Fußball-Fangesänge" die Lautäußerungen der Fans aufgenommen haben. Angelehnt an der Spezie Mensch, dem Homo sapiens, verliehen sie den Fußballbegeisterten den ironischen Zusatz "fanaticus". Die wissenschaftliche Entdeckung kam sehr spät, denn es gibt den Homo fanaticus, seit es Fußball gibt. Und das ist schon eine Weile her - genau genommen seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Und Mutterland des Fußballs ist ganz klar: England. Dort, so will es die Überlieferung, entstand auch der Kult um jenes Spiel, an dem 22 Männer und ein Ball beteiligt sind. Die Urhymne aller Fangesänge "You’ll never walk alone" von Gery and the Pacemakers ertönte Mitte der 1960er Jahre zuerst in Liverpool.

Warum singen sie denn?

"Der Homo fanaticus hat das Anliegen, dass er seine Mannschaft unterstützen will, dazu ist ihm jedes Mittel recht. Aufs Spielfeld kommt er nicht, also bedient er sich der einzigen Möglichkeit, die er hat: akustisch aufs Spiel einzuwirken", so Guido Brink. Vier Funktionen erfüllt der Gesang: Die eigene Mannschaft anfeuern, einzelnen Spielern huldigen, den Gegner schmähen und verhöhnen und nach einem Tor so richtig auf den Putz hauen.

Deutsche Fans feiern den Sieg gegen Südkorea
Bild: AP

"Die Fans singen beispielsweise, wenn im Mittelfeld nicht so viel los ist", sagt Brink. Beim Basketball fallen viele Körbe, das ist sehr spannend. Sogar beim Pingpong starren die Zuschauer gefesselt aufs Spiel, aber beim Fußball? "Da wechseln Spannung und Entspannung genauso wie beim Eishockey und deshalb eignen sich diese Sportarten bestens fürs Singen", sagt Brink.

"Zieht den Bayern die Lederhose aus!"

Schmähgesänge bereiten dem Homo fanaticus besonders viel Vergnügen. Die Urmelodie des Schmähgesangs sei "Yellow Submarine" von den Beatles, so Brink. Darauf textet der Fan dann beispielsweise: "Zieht den Bayern die Lederhose aus!" oder "Ihr seid nur ein Punktelieferant!", wahlweise "Ihr seid nur ein Möbellieferant!", falls eine schwedische Mannschaft zu Gast ist. Der Kölner FC schockt den Gegner gar damit, sich selbst zu schmähen: "Wir sind nur ein Karnevalsverein" – und trotzdem ist die Mannschaft seit 22 Pflicht-Spielen in der 2. Liga ungeschlagen.

Alles nur geklaut

Wenn es um die Erschaffung neuer Stadion-Hits geht, ist der Homo fanaticus nicht zimperlich. Da wird im bekannten Liedgut geklaut, was die Noten hergeben. Ob Oper oder Popsong - vor nichts machen die Fans Halt und texten nach Lust und Laune. Besonders beliebt ist derzeit "Go West" von den Pet Shop Boys, zuerst angestimmt von den Königsblauen auf Schalke: "Steht auf, wenn ihr Schalker seid".

Alles, was ein Lied braucht, um zum Stadion-Hit zu werden, sind einfache Melodien und unkomplizierte Rhythmen. Alles andere verwirrt den Homo fanaticus. Und damit Klarheit darüber herrscht, was wann gesungen wird, hat sich der Fan etwas Tolles einfallen lassen: den Chantleader. "Das sind Oberfans, die stehen in den Fanblocks seit Jahr und Tag immer an der selben Stelle. Und diese Oberfans stimmen Gesänge an. Und wenn sie gerade den Nerv der Umstehenden treffen, dann singen alle mit und dann verbreitet sich das wie ein Schneeballsystem", sagt Brink. Und dann singt das ganze Stadion: "Olé, olé, olé, olé ...". Und wenn nicht gerade Winterpause in der Bundesliga wäre, dann sängen sie noch heute.