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Fußballspielen gegen den Schulfrust

Anke-Martina Witt3. Juni 2014

Kurz vor der Fußball-WM steigt die Spielleidenschaft vieler Jugendlicher. Studenten der Uni Hannover nutzen den sportlichen Ehrgeiz von Problemschülern, um sie zu trainieren und ihnen beim Schulabschluss zu helfen.

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Ein Fußball zappelt im Netz (Foto: Fotolia/ mirpic)
Bild: Fotolia/mirpic

Carola klopft mit der flachen Hand auf den Tisch und schaut den 17-jährigen Delgasch offen an. "Also, erzähl, was macht ihr im Moment im Mathe-Unterricht?" fragt sie auffordernd. Der Berufsschüler druckst ein bisschen herum. Mathe ist schon wieder so lange her. Doch heute hat der Schüler immerhin eine gute Ausrede: Er hat gerade ein Praktikum in einem Betrieb absolviert. Ein Erfolgserlebnis - für ihn und für die 26-jährige Sonder- und Sozialpädagogikstudentin.

Carola hat schon viele Stunden an der Seite von Delgasch verbracht; hat mit dem aus dem Irak stammenden Schüler Matheaufgaben besprochen und ihn auf Vorstellungsgespräche vorbereitet. Aber nicht im Klassenraum, sondern in den Räumen des Fußball-Bundesligisten Hannover 96. Das "Lernen im Stadion" ist ein Teil des Fußballprojekts Hannover: Studierende der Leibniz-Universität Hannover geben Schülern des Berufsvorbereitungsjahrs (BVJ) einer Berufsbildenden Schule Nachhilfeunterricht und spielen gemeinsam mit den Jugendlichen Fußball.

Mit Fußball an den Schulalltag gewöhnen

"Die BVJ-Schüler gelten oft als Schulversager", sagt Dirk Schröder, der Leiter des Seminars "Sport als Chance" an der Leibniz-Uni Hannover. Die Mehrheit der Schüler hat einen Migrationshintergrund; viele sind von der Hauptschule geflogen. Die Wirtschaft würde sie als nicht ausbildungsfähig einstufen, erklärt der Pädagoge. "Über das Medium Fußball sollen diese Schüler wieder an einen normalen Schulalltag gewöhnt werden." Die meisten Schüler spielen gerne Fußball, denn die Regeln sind einfach. "Die Jugendlichen sollen den Kopf freibekommen, aber dabei auch ein besseres Sozialverhalten lernen, etwa Teamfähigkeit und Pünktlichkeit", ergänzt Berufsschullehrer Carsten Schierholz. Die Schüler merkten schnell, dass Fußballspielen keinen Spaß macht, wenn die Hälfte zu spät kommt.

Uni-Dozent Dirk Schröder (links) und Lehrer Carsten Schierholz vom Fußballprojekt Hannover stehen im Stadion von Hannover 96 (Foto: DW/Witt)
Uni-Dozent Dirk Schröder (links) und Lehrer Carsten Schierholz geben auch Problemschülern eine ChanceBild: DW/M. Witt

Doch es ist nicht nur das gemeinsame Kicken. Die Problemschüler betreuen außerdem bei Heimspielen des Bundesligisten einen Soccer-Court für Kinder. Dort bekämen sie ganz direkte und spontane Anerkennung, sagt Dirk Schröder. Das "Lernen im Stadion" ist der dritte Baustein des Projekts: VIP-Atmosphäre im Stadion statt Klassenraum. "Die Schüler merken, dass es etwas Besonderes ist, bei Hannover 96 zu lernen. Es ist für viele das erste Mal in ihrem Leben, dass sich jemand um sie kümmert", so Schröder. Das steigere insgesamt die schulische Leistung der Jugendlichen. Mehr als die Hälfte der Teilnehmer findet nach dem Projekt einen Ausbildungsplatz. Ohne das Angebot sähe es schlechter aus.

"Ohne das Fußballprojekt hätte ich es nicht geschafft"

Das bestätigt auch der 17-jährige Delgasch. Er kann nun dank des Fußballprojekts eine Ausbildung zum Fachlageristen beginnen. "Wenn ich nur zur Schule gegangen wäre, hätte ich zweimal pro Woche gefehlt, und dann hätte das bestimmt nicht geklappt." Durch das Projekt hat er auch gelernt, pünktlich zu sein. "Ich habe mir jetzt vorgenommen, so weiter zu machen", betont der Schüler bestimmt.

Die Berufsschüler Marvin und Delgasch mit Studentin Carola (von links) im Stadion von Hannover 96 (Foto: DW/Witt)
Berufsschüler Delgasch (Mitte) kann dank des Projekts bald mit seiner Ausbildung beginnen - und Studentin Carola (rechts) sammelt viel praktische ErfahrungBild: DW/M. Witt

Studentin Carola nickt. Es ist auch ihr Verdienst, dass Delgasch so weit gekommen ist. Doch sie profitiert ebenfalls von dem Projekt. Woche für Woche kann sie die praktische Erfahrung sammeln, die im Studium oft zu kurz kommt. "Ich lerne hier, wie ich mit den Jugendlichen umgehen muss und wie ich reagieren sollte, wenn sie sich dann doch mal an die Gurgel gehen", erzählt die Studentin. "Das ist wesentlich einfacher, als theoretisch darüber gesprochen zu haben."

Gemeinsam die WM-Spiele sehen

Weil Jugendliche in Deutschland über das Fußballspielen so erfolgreich motiviert werden können, haben die Initiatoren das Projekt jetzt ausgeweitet. Sie bringen Gymnasiasten und Jugendliche aus der sogenannten Sprachlernklasse der Berufsbildenden Schule, darunter viele Flüchtlinge, zusammen. Die Schüler arbeiten gemeinsam an einer Ausstellung über den Weihnachtsfrieden 1914, als die verfeindeten Truppen an der Front zu Weihnachten die Waffen ruhen ließen und stattdessen Fußball spielten. Für die Ausstellung haben die Elftklässler die Berufsschüler über ihre Kriegserfahrungen befragt, denn viele Jugendliche sind etwa aus Syrien geflohen.

Zwei Fans der deutschen Nationalmannschaft beim Public Viewing in Berlin während der Fußball-Europameisterschaft 2012 (Foto: dpa)
Fußball verbindet!Bild: picture-alliance/dpa

Den 17-jährigen Gymnasiasten Paul haben die Geschichten der Flüchtlinge beeindruckt. Doch nicht nur das. Er hat vor allem neue Kontakte geknüpft und Freunde gefunden, die er sonst nie kennengelernt hätte. "Wir wollen uns auf jeden Fall noch mal mit allen treffen und Fußball spielen oder in eine Bar gehen", sagt Paul. Und natürlich die Weltmeisterschaft zusammen gucken. Fußball verbindet eben.