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Garteneinsichten – Trost der Bäume

4. Oktober 2014

Sie war nicht vorgesehen, die Linde, die sich in den Garten eingeschlichen hat. Nun erinnert ihr gelbes Herbstlaub auch an trüben Tagen an die Freude des Sommers, so Hildegard König von der katholischen Kirche.

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Weltkulturerbe Gartenreich Dessau-Wörlitz - Großkühnau 006
Bild: DW / Nelioubin

Irgendwann hatte sich ein Gast in meinen Garten eingeschlichen. Ein Vogel oder ein Wind muss ihn eingeschleppt haben. Jedenfalls blieb er lange im Verborgenen. Randständig und im Schutz eines Gebüschs gelang es dem Samen einer Linde Wurzeln zu schlagen und sich zu einem Schössling zu entwickeln. Und klein und unscheinbar, wie das Pflänzlein war, überstand es alle die gärtnerischen Maßnahmen des Jätens, Auslichtens und Rückschneidens.

Bis zu dem Tag, als in diesem Teil des Gartens aufgeräumt, das Unterholz entfernt und die Büsche ausgedünnt werden sollten. Da stand sie nun: eine junge Linde, schlank und gerade gewachsen – und nicht vorgesehen an dieser Stelle. „Die gehört da nicht hin“, dachte ich bei mir. „Die muss weg!“ Noch war sie mit einer ordentlichen Astzange und kleinem Kraftaufwand zu beseitigen. „Sie ist aber wirklich schön“, stellte ich fest. „ so wie sie gegen die dunklen Koniferen der Nachbarn ihr helles Grün setzt“.

Sie blieb. Die Koniferen gingen. So wächst sie nun und entwickelt sich zu einem prächtigen Baum. In ein paar Wochen, wenn ringsum Baum und Strauch schon kahl sein werden, dann wird mich das gelbe Laub der Linde selbst an trüben Tagen an die Sommersonne erinnern: Das ist in jedem Spätherbst ihr Geschenk an mich.

Wenn ich heute auf meine Linde im Garten schaue, dann erinnert sie mich an das Bildwort der Bibel, das GOTTES Gegenwart in der Welt mit einem Senfkorn vergleicht, das sich zu einem großen Baum auswächst, der allen möglichen bunten Vögeln Heimat bietet (vgl. Mt 13,31-32).

GOTTES Gegenwart in der Welt – Schnell dahingesagt. Aber mehr als eine fromme Floskel? Ich verbinde mit dem Wort GOTT Güte und Liebe, Leben und Schönheit, Phantasie und Kreativität. Wo immer ich solches erlebe, geschenkt bekomme oder selbst zuwege bringe, ahne ich etwas von dem Geheimnis im Hintergrund, dem Geheimnis, für das ich keinen besseren Begriff als GOTT habe.

Und wenn ich auf die Linde in meinem Garten schaue, die nicht anders groß geworden ist als der Baum aus dem Senfkorn, dann geht mir das Herz auf, weil sie mir sagt: „Lass doch einfach ein Körnchen Güte, einen Flugsamen Liebe in den Alltag fallen, streue eine Handvoll gute Ideen oder gute Worte in die Welt. Das zeigt dann schon seine Wirkung. Du musst dich gar nicht groß um die Folgen kümmern. Das wächst von selbst, keine Sorge, und setzt sich durch, sogar gegen das ganze Gestrüpp aus Bosheit, Desinteresse und Geistlosigkeit, das alles Leben überwuchern will. Du wirst es schon erleben mit der Zeit. Da kannst du dich drauf verlassen.“

Ich weiß: Bäume lassen sich fällen. Ganze Wälder kann man abholzen, niederbrennen und vernichten. Und doch wächst irgendwann, und meist ziemlich schnell, und an Stellen, wo man es gar nicht erwartet, wieder ein erstes kleines Bäumchen nach. Mit so einer Einsicht fällt es mir leicht, in die neue Woche zu starten. Und ich freue mich über jeden Baum, der mir in den Blick kommt. Denn: „Wer möchte leben ohne den Trost der Bäume“? (Günter Eich, Ende eines Sommers. 1955: aus: ders. Sämtliche Gedichte in einem Band, Suhrkamp 2006)

Prof. Dr. Hildegard König, Chemnitz
Prof. Dr. Hildegard KönigBild: Hildegard König

Zur Autorin: Prof. Dr. Hildegard König hat in Tübingen katholische Theologie und Germanistik studiert. Ein Schwerpunkt ihrer Forschung liegt im Bereich „Alte Kirchengeschichte und Patristik“. Nach einem Studienaufenthalt in Rom lehrte sie an den Universitäten Luzern, Frankfurt, Tübingen und an der RWTH Aachen. Nach einer Gastprofessur an der LMU München arbeitet sie seit 2011 als Professorin für Kirchengeschichte an der Technischen Universität Dresden. Darüber hinaus ist sie als freie Dozentin tätig.