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Politik

Heimat Almanya

Bilkay Öney
Bilkay Öney
13. April 2017

Sich in Deutschland heimisch fühlen, ist für jeden Neuankömmling schwer. Man muss sich willkommen fühlen. Aber es braucht auch Wertschätzung für die Freiheiten und Vorteile, die man hier genießen kann, meint Bilkay Öney.

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Deutsche und Türkische Flagge
Bild: picture alliance/dpa/J. Kalaene

"Heimat" - es gibt vermutlich keinen Begriff, der emotionaler besetzt ist. Liebe vielleicht. Oft setzt man beides in Verbindung. Wie muss es den "Gastarbeitern" ergangen sein, die seinerzeit ihre Heimat verließen und nach Deutschland kamen? Wie viel Zeit braucht man, sich in ein Land einzuleben und die neue Heimat zu lieben? Wie lange erst dauert dieser Prozess, wenn man aus einem völlig anderen Kulturkreis kommt? Die drei Millionen Türkeistämmigen in Deutschland zeigen: manchmal sehr lange.

Lange Zeit galt die Integration keiner anderen Migrantengruppe schwieriger, als die der "Türken". Bis heute ranken sich Vorurteile und Mythen um sie. Dabei ist keine andere Gruppe von Einwanderern so präsent in der deutschen Politik wie sie, gleichzeitig aber auch keine so umstritten. Der Streit um das Referendum in der Türkei ist nur ein Beleg von vielen. Der Doppelpass ein weiterer. Viele fragen sich, ob und wie man zwei Ländern gegenüber loyal sein kann. Und viele wollen wissen, warum so viele Türken in zweiter und dritter Generation noch so an der Heimat der Großeltern hängen.

Eine Frage der Emotionen

Das hat tatsächlich mit Emotionen zu tun, mit dem Gefühl, sich in der "Heimat" nicht erklären zu müssen und einfach nur dazu zu gehören. Aber auch mit Zuwendung: Wie wenn man zwei Elternteile hat und einer von beiden hat ständig etwas auszusetzen, während der andere Teil dich trotz allem immer lieb hat. So ungefähr verhält es sich mit Deutschland und der Türkei. Bezogen auf Deutschtürken ist Deutschland das Land, das immer den Zeigefinger erhebt und kritisiert. Dieser Umstand wird von vielen als frustrierend empfunden: "Wir können tun, was wir wollen, aber Deutschland mag uns trotzdem nicht."

Bilkay Öney
Bilkay Öney war 2011 bis 2016 Integrationsministerin in Baden-Württemberg. Die Diplom-Kauffrau wurde 1970 in der Türkei geboren und lebt seit 1973 in Deutschland.Bild: picture alliance/dpa

Nun tun wir uns in Deutschland mit Emotionen immer schwer - besonders in der Politik. Das erklärt, warum ein Teil der Deutschtürken sich von der türkischen Politik angesprochen fühlt, wo alles etwas emotionaler, lauter, stärker, dramatischer, und schwarz-weißer ist. Wesenszüge lassen sich nur schwer ändern. Von heute auf morgen wird die deutsche Politik nicht emotionaler und die türkeistämmigen Bürger nicht weniger empfänglich für Gefühle. Aber könnte es nicht gelingen, den für Emotion Empfänglichen die Liebe zu dem zu vermitteln, was man hat? Da wäre als erstes zu nennen: die deutsche Sicherheit und Ordnung. Natürlich nervt dieses typisch deutsche manchmal - die schwäbische Kehrwoche zum Beispiel oder die Vielzahl der Tonnen für die Mülltrennung. Und Verbotsschilder - fast überall. Andererseits sind Spielregeln für das Funktionieren von Staaten und jeglichen Beziehungen unerlässlich.

Unsere deutsche Besserwisserei und der politische Zeigefinger nerven das Ausland manchmal. Aber das erklärt sich aus der Geschichte: Zwei Weltkriege hat das Land erlebt, zwei Diktaturen, der Holocaust war besonders traumatisch. Umso empfindlicher reagiert man hier auf Extremismen. Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut, weil sie hart erkämpft werden musste. Ebenso die Gleichberechtigung. Gewisse Rechte sind hier nicht verhandelbar. Hier wird es keine Abstimmungen über das Grundgesetz geben, denn es hat Gründe, warum das Grundgesetz so abgefasst ist, wie es ist. Viele Menschen haben für diese Gründe ihr Leben gelassen.

Ein Referendum für weniger Demokratie?

Umso unverständlicher erscheint vielen Deutschen, dass es nun in der Türkei ein Referendum über die Verfassung gibt. Eine Abstimmung, deren Folge weniger Demokratie sein könnte. Davor haben wir Deutschen Angst. Denn wir erinnern uns immer daran, wie es ist, in einer Diktatur zu leben. Genau deshalb sind wir in dieser Frage so empfindlich und wenig kompromissbereit. Daher rührt der politische Zeigefinger. Und es ist ein Zeichen des hohen Bildungsniveaus, dass man hier von der deutschen Friseuse genauso auf das Referendum angesprochen wird wie vom Handwerker. Hier muss man kein Vermögen ausgeben, damit die Kinder eine gute Ausbildung bekommen. Wo in der Welt gibt es das sonst?

Es gibt so viele liebenswerte Dinge an Deutschland, auch wenn es vielen Menschen so kalt erscheint. Wir halten längst vieles für selbstverständlich und nehmen es gar nicht mehr wahr. Damit tun wir diesem Land unrecht. Bei einer Einbürgerungsfeier in Baden-Württemberg wurde mir das klar, als eine Brasilianerin das Wort ergriff. Die vielen Verbotsschilder waren auch ihr aufgefallen. Aber eines hatte sie besonders beeindruckt: ein Schild mit einem Tempolimit und direkt darunter eines, das vor Fröschen warnte, die die Straße überqueren könnten: "Hier werden sogar kleinste Lebewesen geschützt. Hier ist jedes Leben etwas wert. Das gibt es nirgendwo auf der Welt." Die Worte der Frau waren eine wunderbare Liebeserklärung an Deutschland.

Der Charme von deutscher Rationalität

Ja, es ist nicht einfach, eine neue Heimat zu lieben. Das braucht Zeit. Auch hat man als Migrant keine Garantie, im selben Maße von der neuen Heimat geliebt zu werden. Deutschland ist gewiss keine einfache Heimat mit all seinen Regeln und Verbotsschildern. Und Deutschland ist auch nicht das emotionalste Land der Welt. Aber hier ist jedes Leben etwas wert. Der so simple und grandiose erste Satz in Artikel 1 des Grundgesetzes drückt es so aus: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Es gäbe vermutlich poetischere und emotionalere Sätze, um das Gleiche deutlich zu machen. Aber Deutschland wäre nicht Almanya, wenn es plötzlich in Gefühlsduselei verfiele.

Rationalität macht dieses Land aus und darauf gründet sich sein Erfolg, ebenso wie seine politische Kultur. Wären wir hier ein bisschen emotionaler, ein bisschen den Migranten zugewandter - wir könnten sie vermutlich alle einwickeln. Der frühere Bundespräsidenten Christian Wulff hat wohl nicht geahnt, welche Lawine er lostrat, als er sagte "Der Islam gehört zu Deutschland". Es war ein Versuch, die Muslime einzufangen und deswegen ein mutiger Satz. Und doch blieb er vage, weil sich der Satz auf den Islam bezog, nicht auf die Menschen. Wenn man die Menschen und ihre Herzen erreichen will, muss man sie direkt ansprechen und den Migranten sagen: "Ihr gehört zu Deutschland." Dann klappt es auch mit der guten Nachbarschaft. Heimat Almanya - wir schaffen das!

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