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Geheime Gedanken - Das Deutsche Tagebucharchiv

Kristine von Soden 19. Januar 2009

Tagebücher, Briefe, Lebenserinnerungen - mehr als 7000 Dokumente lagern im Deutschen Tagebucharchiv in Emmendingen. Sie erzählen Geschichten von ganz verschiedenen Zeiten, aus ganz unterschiedlichen Perspektiven.

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Auszug aus einer handschriftlichen Niederschrift.
Spontan und nicht planbar - so beschreibt Martin Walser die Entstehung seiner TagebücherBild: Deutsches Tagebucharchiv Emmendingen / Seitz

„Der erste Kuss ist die Krone aller Küsse…Gestern hatte Kurt Geburtstag... Es war sehr schön! Morgen treffen wir uns wieder. Ich kann es kaum noch erwarten. Ach, wenn es doch schon morgen wäre!!!“ Solche und ähnliche Zeilen finden sich im Deutschen Tagebucharchiv im südbadischen Emmendingen. Diese hier stammen aus dem Tagebuch einer Fünfzehnjährigen, geschrieben 1963.

Import aus Italien

Das Deutsche Tagebucharchiv im alten Emmendinger Rathaus
Das Deutsche Tagebucharchiv im alten Emmendinger RathausBild: Deutsches Tagebucharchiv Emmendingen / Seitz

Die Idee für das Tagebucharchiv hat seine Gründerin Frauke von Troschke Mitte der 1990er Jahre von einer Toskanareise mitgebracht. Dort fanden auf dem Marktplatz in einem abgeschiedenen Städtchen in der Nähe von Arezzo immer wieder Lesungen aus Tagebüchern statt, veranstaltet vom Archivo Diaristico Nazionale, dem Italienischen Tagebucharchiv. Seit mehr als einem Jahrhundert hat es in Pieve S. Stefano sein Domizil. Tausende von Tagebüchern entkamen hier ihrem Verfall auf Dachböden oder der banalen Entsorgung auf Mülldeponien. Tagebücher, die nie ein Lektor las, keiner je redigierte, keiner je auf ihre mögliche Verkaufbarkeit hin taxierte. Tagebücher, die vom Alltag der Bauern erzählen, ihren Leidenschaften, ihrer Mühsal und Not - unwiederbringlich, in schönster Poesie, vergleichbar der alten italienischen Landliedkultur

Geschichte ganz privat

Zurück in Deutschland wird Frauke von Troschke sofort aktiv. Sie ruft einen Verein ins Leben, gewinnt Sponsoren und überzeugt den Bürgermeister, Räume zur Verfügung zu stellen. Vom Land Baden-Württemberg erhält sie finanzielle Unterstützung. 1998 dann feiert das Deutsche Tagebucharchiv seine Eröffnung. „Jeder hat das Recht, gehört zu werden!“ lautet bis heute die Maxime. Und: Dass nicht Dokumente von „großen Namen“ gesammelt werden, sondern ausschließlich von normalen Menschen.

Durch die Fülle an Material ist das Deutsche Tagebucharchiv längst zu einer wichtigen Rechercheeinrichtung geworden - sowohl für die Forschung als auch für Privatpersonen. Zudem gibt es enge Kontakte zu Schulen. Sie nutzen Tagebuchtexte aus dem Archiv für den Geschichtsunterricht.

Jedes Tagebuch ein Unikat

Antike Fotografie, die Tagebuchschreiber zeigt.
Tagebücher sind geduldige ZuhörerBild: Deutsches Tagebucharchiv Emmendingen / Seitz

Rund 90 ehrenamtliche Männer und Frauen - viele von ihnen Lehrer, Bibliothekare oder Volkskundler im Ruhestand - transkribieren jedes einzelne in Emmendingen eintreffende Tagebuch. Nach einem vorgegebenen Stichwortkatalog erfassen sie es samt knapper Inhaltsangabe in einer Datenbank: Name des Autors oder der Autorin, Alter, Geburtsort, Ort und Zeitraum der Niederschrift, um welche Themen geht es, worauf wurde geschrieben und womit. Auf den ersten Blick sind das trockene Fakten. Doch das Original bildet unzählige Lebensschichten ab, wobei Schwieriges deutlich häufiger festgehalten wird als Leichtes. In Emmendingen gibt es Berge erschütternder Kriegstagebücher, Tagebücher mit Fluchtprotokollen, Tagebücher aus Konzentrationslagern, aus Gefängnissen, aus dem Exil.

Viele Tagebücher gelangen durch Haushaltsauflösungen, Tod, Erbschaften oder Umzug nach Emmendingen. Andere über Zeitungsaufrufe des Archivs. Nicht selten sind es ganze Pakete mit Dutzenden von Büchern, voll gekritzelten Kalendern oder einfachen liniierten Heften. Manche lassen sich kaum entziffern, sind gespickt mit seltsamen Codes, haben kleine verriegelte Schlösser oder sind fest verknotet mit einem Band - Lebensspuren, die die Wichtigkeit des Aufgeschriebenen für die Betreffenden erahnen lassen.

Tagebücher spenden Trost und kühlen blaue Flecken an der Seele, das illustrieren die Schätze in Emmendingen. Und damit diese die Zeit möglichst lange überdauern, sind Originale nur in Ausnahmefällen einsehbar. Von jedem Tagebuch existiert eine Kopie.