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Gemeinsam unterschiedlich

Ronny Blaschke29. April 2013

Erstmals werden die Schulsport-Wettbewerbe "Jugend trainiert für Paralympics" und "Jugend trainiert für Olympia" gemeinsam ausgetragen. Dabei profitieren Sportler mit und ohne Behinderung voneinander. Das ist ein Anfang.

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Finalspiel im Rollstuhlbasketball in der Berliner Max-Schmeling-Halle (Foto: Kai Gemeinder/JTFO/JTFP)
Bild: JTFO/JTFP

Die Schiedsrichterin bittet um Ruhe und sofort schweigen die Zuschauer in der Berliner Max-Schmeling-Halle. Sabine Kuxdorf konzentriert sich, achtet auf ihre Umgebung. Aus der gegnerischen Hälfte rollt der Spielball auf sie zu. Die 17-Jährige ist blind, sie kann den Ball, in dem kleine Klingeln befestigt sind, nur hören. Sie wirft sich auf den Boden, streckt ihre Arme aus, robbt einen Meter nach rechts und pariert den Ball. Ihr Trainer applaudiert, dann richtet sie sich auf, aus der Verteidigung in den Angriff, und rollt die rasselnde Kugel wuchtig aufs gegnerische Tor. So geht es beim Goalball hin und her, dem beliebtesten Ballsport für Menschen mit Sehbehinderung.

Nach dem Spiel ist Sabine Kuxdorf außer Atem, doch sie hat genug Energie, um von ihrem Sport zu schwärmen. "Ich war nicht immer so selbstbewusst, aber Goalball hat mir viel Selbstvertrauen gegeben. Ich habe gelernt, dass man gemeinsam verliert und gemeinsam gewinnt. Und dass man auch mal aussprechen kann, wenn etwas nicht funktioniert." Mit ihrem Gymnasium aus Marburg hat Sabine Kuxdorf an einem Wettbewerb teilgenommen, der immer größer wird: "Jugend trainiert für Paralympics". Das Sportfest fand in Berlin erstmals mit dem großen Vorbild statt: "Jugend trainiert für Olympia" gilt als der größte Schulsport-Wettbewerb der Welt, mit jährlich 800.000 Kindern und Jugendlichen. In zwanzig Sportstätten kamen nun für das Frühjahrsfinale rund 3000 Schüler zusammen. Jugendliche mit und ohne Behinderung traten in unterschiedlichen Sportarten an, doch erstmals profitierten sie von derselben Infrastruktur und derselben Betreuung. Sabine Kuxdorf sagt: "Wir haben viel Spaß zusammen und lernen von einander."

Kooperation an der Basis ausweiten

Bundesfinalveranstaltungen "Jugent trainiert für Paralympics 2013": Sabine Kuxdorf (l.), sehbehinderte Teilnehmerin, und Norbert Fleischmann, ehemaliger Vorsitzender der Deutschen Behindertensportjugend (Foto: DW/R. Blaschke)
Sabine Kuxdorf (l.) und Norbert Fleischmann bei "Jugend trainiert für Paralympics" in BerlinBild: DW/R. Blaschke

Es sind Aussagen, die Norbert Fleischmann zeigen, dass sich seine Arbeit gelohnt hat. Der ehemalige Vorsitzende der Deutschen Behindertensportjugend (DBSJ) hat sich seit Mitte der neunziger Jahre für "Jugend trainiert für Paralympics" eingesetzt. Er hat dutzende Gespräche geführt, mit Sponsoren, Medien, Politikern. Das erste Bundesfinale fand 2010 im Sportzentrum Kamen-Kaiserau statt, in Nordrhein-Westfalen, wo seit 2003 ein vergleichbarer Wettbewerb auf Landesebene ausgetragen wurde. Seitdem ist das paralympische Sportfest rasant gewachsen. "Die Zusammenlegung beider Schulsport-Wettbewerbe ist für uns ein Meilenstein", sagt Fleischmann. "In der riesigen Tischtennishalle habe ich fast zehn Minuten nach den Sportlern mit Behinderung gesucht. Das ist gut so, sie gehören einfach dazu und sind völlig normal."

Doch Fleischmann weiß auch, dass diese Allianz nicht symbolisch für den Breitensport steht. Etwa 500.000 Kinder und Jugendliche haben in Deutschland einen sonderpädagogischen Förderbedarf, in Sportvereinen sind aber nur 53.000 von ihnen aktiv – damit sind Jugendliche mit einer Behinderung in der Vereinslandschaft stark unterrepräsentiert. "Die Entwicklung geht langsam, aber sicher voran", glaubt Fleischmann. Seine Kollegen und er wollen vor allem Kooperationen an der Basis vorantreiben, in den Kreissportbünden, auf Sportfesten – dafür soll der Schulsport eine Brücke schlagen. Immer vor dem Hintergrund der Inklusion, der gleichberechtigten Teilhabe von Menschen mit Behinderung.

Auch Lehrer grenzen behinderte Schüler aus

Siegerehrung durch Paralympics-Siegerin Maja Lindholm (r.) an einen Spieler der Bundessieger (Foto: Kai Gemeinder/JTFO/JTFP)
Paralympics-Siegerin Maja Lindholm (r.) übergibt einem Spieler des Bundessiegerteams die MedailleBild: JTFO/JTFP

Neben Goalball und Tischtennis wurden in Berlin auch die Sieger im Rollstuhlbasketball ermittelt, zu den talentiertesten Spielern gehörte Sebastian Holzheu aus Renningen bei Stuttgart. Der 15-Jährige leidet am sogenannten Proteus-Syndrom, er geht auf eine Privatschule, auf der mehrheitlich Schüler mit Behinderung unterrichtet werden. Diese spezialisierten Schulen sollen jedoch nach und nach abgewickelt werden. So trifft der Erziehungswissenschaftler Ulf Preuss-Lausitz zum Beispiel für Nordrhein-Westfalen folgende Prognose: 2021 können 85 Prozent aller behinderten Kinder auf eine Regelschule gehen, zurzeit liegt diese Quote bei knapp 20 Prozent. Holzheu war zeitweilig auf eine Regelschule gegangen, in seinen Klassen war er meist der einzige Schüler mit Behinderung. "Für die Mitschüler war ich ganz normal", sagt er. "Aber einige Lehrer haben mich spüren lassen, dass ich anders bin. Sie haben bei Ausflügen gesagt, dass ich nicht mitkommen darf, weil ich nicht hinterher kommen würde."

Jugendliche mit Medaillen bei der Siegerehrung bei "Jugend trainiert für Paralympics" (Foto: Kai Gemeinder/JTFO/JTFP)
Die jungen Sportler sind stolz auf das ErreichteBild: JTFO/JTFP

Die Vereinten Nationen haben 2006 die gleichberechtigte Teilhabe offiziell zu einem Menschenrecht erhoben, Deutschland hat diese Konvention 2009 ratifiziert. "Das Ziel ist richtig und wichtig", sagt Norbert Fleischmann. "Aber noch sind die Voraussetzungen nicht gegeben." Er verweist auf die bestehenden Förderschulen mit unterschiedlichen Schwerpunkten: auf den Mangel und die unzureichende Ausbildung von Lehrern, auf knappe Hallenkapazitäten und fehlende Unterrichtsmaterialien. "Es wird noch viele Jahre dauern, bis wir eine Generation gut ausgebildeter Sportlehrer haben, die das Ziel der Inklusion umsetzen kann." Für einen angemessenen inklusiven Schulunterricht werden laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung 9300 zusätzliche Lehrkräfte gebraucht, das würde jährlichen Kosten von 660 Millionen Euro entsprechen.

Schule als Sprungbrett für den Leistungssport

"Jugend trainiert für Paralympics" hat sich gut entwickelt und steht doch erst am Anfang, das zeigt sich an den Biografien vieler Sportler. Die Goalball-Spielerin Sabine Kuxdorf hat im vergangenen Jahr am Paralympischen Jugendlager während der Sommerspiele in London teilgenommen, an einem Motivationscamp für Talente. "Ich habe so viele Eindrücke gesammelt, dass ich noch immer jeden Tag daran denken muss." Sie möchte Psychologie studieren und sich ehrenamtlich im Sport engagieren. Aber erst später, nachdem sie selbst einmal an den Paralympics teilgenommen hat.