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Gemeinsames Lernen

22. Februar 2012

Ob begabt oder behindert – in Deutschland sollen bald alle Kinder gemeinsam lernen. Eine Herkulesaufgabe, für die die Lehrer erst fit gemacht werden müssen. Zum Beispiel an der Universität Hildesheim.

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ARCHIV - Im Rollstuhl sitzt eine behinderte Schülerin am 01.11.2011 im Klassenraum einer Integrierten Gesamtschule (IGS) in Hannover. Die Inklusion von Behinderten an niedersächsischen Schulen steht am Donnerstag (10.11.2011) auf der Tagesordnung des niedersächsischen Landtages. Foto: Holger Hollemann dpa/lni +++(c) dpa - Bildfunk+++
Bild: picture-alliance/dpa

Geistig oder körperlich behinderte Kinder hat Sandra Wobig zwar noch nicht in ihrer Klasse gehabt. Aber die Pädagogin weiß durchaus, wie anders der Unterricht mit Kindern ist, die nicht so schnell begreifen, die sich sprachlich kaum ausdrücken können, die unruhig und unkonzentriert sind. Eine Herausforderung, die viele deutsche Lehrer überfordert - auch Sandra Wobig. "Ich habe gemerkt, dass ich ihnen nicht das geben konnte, was sie eigentlich brauchen", gibt die Pädagogin zu.

Doch das wollte sie ändern. Deshalb studiert die 28-jährige Haupt- und Realschullehrerin jetzt noch einmal. Sie ist eine von 24 Erstsemestern, die den neuen Studiengang "Inklusive Pädagogik" an der Universität Hildesheim belegt haben. Auch die 54-jährige Realschullehrerin Gisela Hollander-Frolow hat sich an die Uni begeben, um dort zu lernen, wie sie eine Klasse mit völlig unterschiedlichen Kindern unterrichten kann.

Sandra Wobig (foto: Oliver Jürgens)
Sandra Wobig studiert wiederBild: DW

Angst verhindert bisher Inklusion

"Viele meiner Kollegen haben Angst vor der Inklusion", erzählt sie. "Schulleiter und Kollegium sind extrem hilflos, weil ihnen das Rüstzeug dafür bislang fehlt." Zwar gebe es Lehrer, die sich intensiv Kindern mit Behinderung widmen wollen. "Aber dann wächst die Frage in den Lehrern, wie soll ich das denn umsetzen und was könnte mir helfen dabei."

Hier setzt der neue Weiterbildungsstudiengang an. Denn es dauert noch Jahre, bis die heutigen Studierenden an die Schulen kommen, die sich bereits in ihrem Studium mit dem Thema Inklusion beschäftigen. "Die bislang bekannten Fortbildungen ziehen sich über vier Wochenenden und bringen nicht viel", meint Studentin Sandra Wobig. Deshalb hat Margitta Rudolph, die Leiterin des Weiterbildungszentrums an der Universität Hildesheim, auch den Studiengang entwickelt.

Margitta Rudolph (foto: Oliver Jürgens)
Margitta Rudolph lehrt "Inklusion"Bild: DW

Neue Sichtweise von Pädagogik

Ein Angebot, das deutschlandweit noch einmalig ist. Die Umsetzung der Inklusion, zu der sich Deutschland mit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention 2009 verpflichtet hat, komme nur schleppend voran, kritisiert Bildungsexperte Heiner Wocken. Überall müsse es reformbegleitende Lehrerfortbildungen geben, fordert er. "Die deutschen Lehrer haben es nicht gelernt, heterogene Gruppen zu unterrichten."

Fortbildungen alleine aber reichen nach Ansicht Wockens nicht. "Wir müssen alle Schulformen unter einem Dach zusammenfassen", fordert er. Es reiche nicht, bestimmte Standards für die Inklusion in Haupt- und Realschulen oder Gymnasien zu erfüllen. "Für die Inklusion brauchen wir ein integriertes Schulsystem, doch dazu fehlt der energische Wille." Denn Inklusion bedeute, eine neue Sichtweise von Pädagogik einzunehmen und eine neue Einstellung zu Behinderungen zu entwickeln.

In drei Schritten zum Erfolg

Genau hier setzt auch das Studium in Hildesheim an. Zunächst nämlich lernen die Studierenden eine andere Didaktik kennen. "Wir vermitteln ihnen Verständnis für die Vielfalt der Kinder in einer Klasse", sagt Margitta Rudolph. "Die Haltung der Lehrer zu ihren Schülern muss sich verändern, wenn sie alle Kinder in ihrer Unterschiedlichkeit wahrnehmen und fördern sollen", sagt Margitta Rudolph. Außerdem erfahren die Lehrer, wie sie mit ihren Schülern so kommunizieren, dass alle dem Unterricht folgen können und den Lernstoff verstehen.

Britta Ostermann (foto: Oliver Jürgens)
Sie koordiniert den Studiengang: Britta OstermannBild: DW

Zum Schluss geht es dann darum zu erlernen, wie der Student das gewonnene Wissen dem Kollegium an der Schule vermitteln kann, denn schließlich können ja nicht alle Lehrer in Hildesheim studieren.

Der Studiengang ist international angelegt. Zusammen mit der Pädagogischen Hochschule in Zürich werden gemeinsame Lernwochen gestaltet. Davon profitieren die deutschen Studenten, denn die Schweizer haben bereits mehr Erfahrung mit der Inklusion in ihren Schulen.

Nach vier Monaten Studium merken die Studierenden bereits erste Veränderungen. Sandra Wobig hat mit einem unter Konzentrationsproblemen leidenden Schüler einen Lernvertrag gemacht. Zusammen mit ihm hat sie einen Strukturplan aufgestellt, in dem beide festgelegt haben, wie der Jugendliche an seine Arbeit herangehen soll. "Er hat sich in meinen Fächern um eine oder zwei Noten verbessert", strahlt seine Lehrerin.

Autor: Oliver Jürgens
Redaktion: Sabine Damaschke