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Genscher: „Europa braucht einen Neuanfang“

Berthold Stevens 7. November 2014

Der frühere Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher sagte zum 25. Jahrestag des Mauerfalls, er glaube nicht, „dass aus den Chancen, die das Jahr 1989 geboten hat, das gemacht wurde, was gemacht werden konnte“.

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Hans-Dietrich Genscher mit DW-Sonderkorrespondent Christian F. Trippe bei der Aufzeichnung am 7. November in Bonn
Bild: DW/M.Müller

Im Interview der Deutschen Welle forderte Genscher angesichts der neuen Ost-West-Spannungen, Europa brauche „einen Neuanfang“.

Der frühere Bundesaußenminister sagte dem deutschen Auslandssender mit Blick auf die Öffnung der Mauer vor 25 Jahren, er habe zu diesem Zeitpunkt nicht die Befürchtung gehabt, dass es noch zu blutigen Auseinandersetzungen hätte kommen können. „Diese Frage war entschieden seit der großen Demonstration vom 9. Oktober 1989 in Leipzig und der Tatsache, dass die NVA nicht eingesetzt wurde.“ Die Frage sei allerdings gewesen, ob Gorbatschow und Schewardnadse ihren Kurs würden durchsetzen können. „Diese Sorge hat uns bis zum letzten Tag, bis zur Unterschrift unter den Zwei-plus-Vier-Vertrag im Spätsommer 1990 begleitet“, so Genscher. Überraschend sei der Fall der Mauer zwar vom Zeitpunkt, nicht aber „vom Endergebnis her“ gewesen. Die langfristig angelegte Entspannungspolitik habe ja das Ziel gehabt, die deutsche Teilung „als Hauptspannungsursache in Europa zu beseitigen“.

Genscher sagte weiter, die anfänglichen Vorbehalte aus Großbritannien und Frankreich hätten ihm keine Sorgen gemacht. Er sei überzeugt gewesen, dass die damalige britische Regierungschefin Margaret Thatcher sich früher oder später „so verhalten würde wie die Amerikaner“. Es sei im Übrigen falsch zu behaupten, der französische Präsident François Mitterrand sei gegen die deutsche Einheit gewesen. Mitterrand sei es um die Zusicherung gegangen, dass „auch das vereinte Deutschland den europäischen Kurs fortsetzen werde. Das konnte ich guten Gewissens sagen“, so Genscher. Die Behauptung aber, Frankreich habe der Einheit nur zugestimmt unter der Voraussetzung, dass Deutschland die D-Mark aufgeben und eine gemeinsame europäische Währung einführen werde, bezeichnete Genscher als „Märchen“.

„Beide Seiten haben Anlass nachzudenken“

Auf die Frage, ob er angesichts der aktuellen Entwicklungen in Osteuropa fürchte, dass der Kalten Krieg zurückkehren könnte, sagte Genscher: „Es besteht eine große Sorge, weil ich nicht glaube, dass aus den Chancen, die das Jahr 1989 geboten hat, das gemacht wurde, was gemacht werden konnte.“ Deshalb brauche das Bemühen, „das gemeinsame europäische Haus zu schaffen, wie Gorbatschow sagt, neue Energie“. Genscher: „Wir brauchen einen Neuanfang.“

Im Gespräch: Hans-Dietrich Genscher

So müsse der Nato-Russland-Rat wiederbelebt werden. „Diese große Errungenschaft“ sei gerade für Krisenzeiten geschaffen worden. „Jetzt haben wir die Krise, und der Rat tritt nicht zusammen. Ich denke, hier haben beide Seiten Anlass nachzudenken.“ Gemessen an großen aktuellen Problemen wie etwa den Flüchtlingsbewegungen oder der Weltgesundheitslage „erscheinen die Probleme, über die heute in Europa gestritten wird, ziemlich klein“, so Genscher.

Der frühere Außenminister wies in diesem Zusammenhang auch die Behauptung zurück, Moskau sei damals hinters Licht geführt worden mit dem Versprechen, die Nato werde nicht an die russische Grenze heranrücken. Dies sei „nie Gegenstand von Verhandlungen gewesen und schon gar nicht ein Verhandlungsergebnis“. Man habe im Zwei-plus-Vier-Vertrag vielmehr „eine eindeutige Regelung geschaffen“, was mit dem Gebiet der vormaligen DDR geschehe: „Hier werden nur deutsche Truppen stationiert und keine Massenvernichtungswaffen aufgestellt und das vereinte Deutschland wird weniger Soldaten haben, als das geteilte im Westen hatte“, nur das sei festgelegt worden, sagte Genscher.

„Die innere Einheit längst erreicht“

Gefragt nach der aktuellen Entwicklung in Thüringen und einem möglichen Linken-Ministerpräsidenten Bodo Ramelow, sagte Genscher: „Die deutsche Demokratie ist stark genug, um das auszuhalten.“ Im Übrigen werde auch eine solche neue Koalition „nur mit Wasser kochen“. Er würde hier deshalb „nicht den Teufel an die Wand malen, aber ich würde sagen: aufmerksam hinsehen und schauen, was aus den Versprechungen wird“, so Genscher.

Hans-Dietrich Genscher im Gespräch mit DW-Sonderkorrespondent Christian F. Trippe
Hans-Dietrich Genscher im Gespräch mit DW-Sonderkorrespondent Christian F. TrippeBild: DW/M.Müller

Die Deutschen hätten „die innere Einheit längst erreicht“. Deutschland sei ein föderaler Staat, da gebe es viele Unterschiede. „Diese Vielfalt ist eine große Stärke.“

7. November 2014
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