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Georgij und die Zeugen Jehovas

Wladimir Kaminer11. Februar 2003

Der Alltagskosmonaut Wladimir Kaminer erkundet Berlin – und wundert sich, dass drei Sektenmitglieder verloren gehen. Von seltsamen Erlebnissen noch seltsamerer Menschen berichtet der Autor exklusiv für DW-WORLD.

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Wladimir Kaminer vermisst drei SektenmitgliederBild: Wladimir Kaminer

Mein Nachbar Georgij kann manchmal gefährlich sein. Sein Drang zu ständiger Kommunikation macht ihn zu einem Monstrum. Über solche Menschen wird behauptet, dass sie zu sprechen beginnen, noch bevor sie geboren werden. Danach hören sie nicht mehr auf. Auch seine Gastfreundschaft kennt keine Grenzen. Seine Wohnung gleicht einer Falle: Man kommt sehr leicht rein und kaum wieder raus.

Wir haben uns auf der Treppe kennen gelernt. "Wladimir", sagte er zu mir, "ich habe in der Zeitung deine Geschichten gelesen. Du musst unbedingt über meine Oma schreiben, sie macht völlig irre Sachen", meinte er und zerrte mich in seine Wohnung. Erst nach acht Stunden gelang es mir, wieder rauszukommen. Zwischendurch musste ich meine Frau anrufen, die sich schon Sorgen machte, weil ich ja eigentlich nur zum Briefkasten runtergehen wollte, um die aktuelle Post abzuholen. In den acht Stunden habe ich alles über Georgijs Oma erfahren sowie über seine anderen zahlreichen Verwandten, die alle Anfang der neunziger Jahre ihren Heimatort Kasan verließen und sich über die ganze Welt verstreuten.

Georgij erzählte mir tatsächlich interessante Geschichten: Alle in seine Familie scheinen abenteuerlustige Menschen zu sein. Seltsamerweise hatte ich jedoch keine Lust, über seine Oma oder über die anderen Familienmitglieder zu schreiben. Ich wollte nach Hause und Zeitung lesen. Es ging aber nicht. Georgij erzählte und erzählte, ich hörte höflich zu. Nach vier Stunden begriff ich, dass er von alleine nie aufhören würde. Aus Höflichkeit verbrachte ich noch weitere zwei Stunden bei ihm in der Küche, dann nutzte ich eine Pinkelpause von ihm und verabschiedete mich schnell.

Ich weiß, dass Georgij selten Besuch bekommt. Die Landsleute kennen seine Art und haben einfach keine Lust auf die unendlichen Monologe, und die einheimischen Nachbarn halten ihn wahrscheinlich für verrückt, weil er sie ständig auf der Treppe anspricht. Mehrmals lud er sie zu sich ein, sie blieben aber hart und lehnten seine Einladungen ab.

Die ersten Einheimischen, die seine Wohnung betraten, waren Zeugen Jehovas. Das war im Herbst des vergangenen Jahres. Zwei Männer und eine Frau fragten Georgij freundlich, ob sie nicht reinkommen dürften. "Wir werden Ihre kostbare Zeit nicht lange in Anspruch nehmen. Wir wollen mit Ihnen nur kurz über den Gott und die Welt reden." sagten sie. Georgij freute sich riesig. "Das ist aber ein sehr großes Thema, es hat mich immer schon interessiert," meinte Georgij und zerrte die drei in seine Wohnung. Danach habe ich das Trio nie wieder gesehen.

Manchmal hört man komische Geräusche aus Georgijs Wohnung, als würde dort ein Chor singen. Ich habe Grund zur Annahme, dass die Zeugen Jehovas sich noch immer in seiner Wohnung befinden. Erst einmal war das im November angekündigte Gesprächsthema tatsächlich sehr umfangreich angelegt. Ich kann mir nicht vorstellen, das Georgij so schnell damit fertig wird. Zweitens kauft er in der letzten Zeit deutlich mehr ein. Und drittens hat er mir selbst eine Bestätigung für meine Theorie geliefert. Als ich ihm neulich auf der Treppe begegnete, wagte ich die provokatorische Frage: "Wie geht es den Zeugen?"

Georgij wurde rot im Gesicht und benahm sich wie ein Dieb, der auf frischer Tat ertappt wurde: "Welche Zeugen?" murmelte er, und wollte zum ersten Mal das Gespräch nicht mehr weiterführen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Georgij unserer Gesellschaft drei Zeugen Jehovas entzogen hat und sie nun zu seinem Privatgebrauch benutzt. Ob so etwas hierzulande strafbar ist, weiß ich allerdings nicht.