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Gesellschaft

Immer mehr Deutsche bewaffnen sich

4. Februar 2018

Selbstverteidigungskurse, kleiner Waffenschein, Pfefferspray: Immer mehr Deutsche fühlen sich bedroht und wappnen sich. Das Unsicherheitsgefühl hat viele Ursachen. Ob Waffen das Problem lösen, ist mehr als zweifelhaft.

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Deutschland Kleiner Waffenschein
Bild: picture-alliance/dpa/J.-P. Kasper

Die Deutschen rüsten auf. Immer mehr Bürger machen den so genannten "Kleinen Waffenschein". Haben sie den in der Tasche, dürfen sie etwa in der Öffentlichkeit Pfefferspray oder Schreckschusswaffen mit sich führen. Mit letzteren kann man zwar keine echten Projektile abfeuern, wohl aber Patronen mit Reizgas. Und auch die sind gefährlich: Aus nächster Nähe abgefeuert, können sie tödliche Wirkung entfalten.

Vor allem in den letzten zwei Jahren ist die Zahl der Deutschen, die den Waffenschein erworben haben, enorm gestiegen. Im Januar 2016 besaßen knapp 301.000 Menschen ein entsprechendes Papier - im Dezember 2017 waren es über 557.000. Blendtaschenlampen, Elektroschocker und CS-Reizgas gehen nach Auskunft des Waffenhandels so gut, dass die Vorräte nicht mehr reichen.

Auch Selbstverteidigungskurse erleben derzeit einen Boom. Taekwondo-Vereine, Fitnessstudios, selbst die Volkshochschulen ziehen mit Angeboten zu Selbstbehauptung und Selbstverteidigungskursen immer mehr Kunden an.

Ein Gefühl von Unsicherheit

Klar ist: Das Gefühl, nicht mehr sicher zu sein, hat in Deutschland von 2015 bis 2017 enorm zugenommen. Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts infratest dimap aus dem Januar 2017 ergab, dass sich insgesamt 23 Prozent der Deutschen "eher unsicher" oder "sehr unsicher" fühlten. Ein knappes Viertel fühlte sich "sehr sicher", die allermeisten - 51 Prozent - "eher sicher". Im Vergleich zu den beiden vorhergehenden Jahren fühlten sich 32 Prozent "weniger sicher". Über zwei Drittel gaben an, für sie hätte sich "nicht viel geändert".

Schreckschusspistole
Schreckschusspistolen - potentiell tödlichBild: Picture-alliance/dpa/C. Rehder

Das Gefühl, dass sich nicht viel geändert habe, dürfte den Eindruck der meisten Deutschen wiedergeben, vermutet Dina Hummelsheim-Doß, Soziologin und wissenschaftliche Referentin in der kriminologischen Abteilung des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg im Breisgau. "Wenn es um Gewalt geht, fühlt sich nur ein kleiner Teil der Deutschen im Alltag persönlich bedroht. Allerdings gibt es bislang kaum wissenschaftliche Längsschnitt-Studien. Die letzte Erhebnung des European Social Survey von 2016 deutet aber darauf hin, dass das allgemeine Unsicherheitsgefühl in Deutschland seit 2014 leicht angestiegen ist", so Hummelsheim-Doß im DW-Interview.

Dennoch: Schon im Januar 2017 stellte infratest dimap fest, dass viele Bürger eine Reihe von Vorsichtsmaßnahmen ergriffen haben. Ein Drittel der Befragten gab in der Umfrage an, abends bestimmte Straßen oder Plätze nicht mehr aufzusuchen. Knapp zwei Drittel gaben an, Reizgas oder eine Waffe zur Selbstverteidigung mit sich zu tragen.

Zusammenhang zur Zuwanderung?

Der Zeitraum in dem das Interesse am Erwerb des kleinen Waffenscheins wuchs, fällt recht genau in jene Zeit, in der Deutschland Migranten und Flüchtlingen seine Grenzen öffnete. Dass ein Zusammenhang zwischen beiden Phänomen besteht, legt auch die Umfrage von infratest dimap nahe. Auf die Frage, vor welchen Personengruppen sie sich am meisten fürchteten, erklärt ein knappes Drittel "Ausländer und Flüchtlinge". Die zweitgrößte Gruppe "Neonazis und Rechte" lag mit 13 Prozent weit dahinter.

Deutschland Köln Hauptbahnhof
Deutsche Angstzone? Der Kölner HauptbahnhofBild: picture-alliance/Geisler-Fotopress/C. Hardt

Dennoch sei offen, wie sich die Zuwanderung auf das Sicherheitsgefühl der Bürger auswirke, sagt Hummelsheim-Doß. "Solche Entwicklungen werden vor allem medial vermittelt. In der Regel erfährt der Bürger von ihnen und ihren Auswirkungen in den Medien, ohne selbst unmittelbar einschätzen zu können, um welche Probleme es in Gesamtdeutschland geht. Aber natürlich kann man nicht ausschließen, dass gesellschaftliche Entwicklungen - wie auch die Migration - zu Unsicherheitsgefühlen und Ängsten führen. Ob diese dann tatsächlich begründet sind oder nicht, ist allerdings eine andere Frage."

Mehr Waffen - mehr Sicherheit?

Die Deutschen bewaffnen sich. Aber garantieren die Waffen ihren Trägern ein höheres Maß an Sicherheit? Nein, erklärt der Kriminologe und Jurist Arthur Kreuzer bei einem Vortrag in der Deutschen Hochschule der Polizei im Juli 2017. "In psychischen Extremlagen greifen viele zur Waffe und erschießen sich oder andere. Wäre die Waffe nicht griffbereit, würde manch spontane Selbst- oder Fremdtötung unterbleiben."

Hinzu komme: Steigender privater Waffenbesitz vergifte das Klima des Zusammenlebens. "Waffenmentalität breitet sich aus, Misstrauen und Ängste wachsen, Vertrauen auf öffentliche Sicherheit schwindet, das staatliche Gewaltmonopol wird unterlaufen", so Kreuzer.

Darum, so die Soziologin Hummelsheim-Doß, komme es vor allem auf eines an: die Gründe für das Unsicherheitsgefühl der Deutschen im Blick zu haben. Die lägen oftmals nicht in der Kriminalität selbst. "Wir wissen, dass Kriminalitätsängste immer sehr stark mit anders gelagerten Ängsten verbunden sind. Kriminalität dient immer auch als Projektionsfläche für soziale Probleme. Darum sollte man zwar auch die Kriminalpolitik im Auge behalten, sich gleichzeitig aber stärker den sozialen Sorgen der Bevölkerung widmen." 

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika