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Geschichtsbuch als Beitrag zur Versöhnung in Südosteuropa

22. September 2005

Eine griechische NGO hat ein vierbändiges Arbeitsbuch für den Geschichtsunterricht in den Schulen Südosteuropas erarbeitet. Es ist ein Pionier-Werk, dessen Einführung in den Schulen jedoch noch aussteht.

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Ein neues Geschichtsbild soll vermittelt werdenBild: Bilderbox

Ziel von Geschichtsbüchern sollte es sein, die Schüler über historische Ereignisse zu informieren, ohne sie einseitig zu bewerten und interpretieren. Dieser Ansatz sei aber in Südosteuropa keine Selbstverständlichkeit, sagt Nenad Sebek, Direktor des Zentrums für Demokratie und Versöhnung in Südosteuropa im griechischen Thessaloniki: „Wir haben eine Forschung gemacht über die Art, wie man Geschichte lernt in den elf Ländern des Balkans. Leider zeigt unsere Untersuchung: Mehr oder weniger in allen diesen Ländern lernt man Geschichte so, dass alle sagen: 'Wir sind die guten Leute, die anderen sind es nicht - wir waren immer die Opfer, niemals der Aggressor.' Nach dieser Untersuchung haben wir die Lehrer in diesen Ländern gefragt: 'O.K., was brauchen Sie, um einen neuen Weg zu finden, um Geschichte zu lernen?' Und sie haben gesagt: 'Wir brauchen neue Bücher.'"

Zeitgenössische Dokumente

Und so haben sich auf Initiative des „Zentrums für Demokratie“ Dutzende Historiker und Geschichtslehrer aus ganz Südosteuropa an die Arbeit gemacht - fünf Jahre lang. Herausgekommen ist ein vierbändiges Werk: Der erste Band beschäftigt sich mit dem Osmanischen Reich, der zweite mit den südosteuropäischen Staaten und Nationen im 19. Jahrhundert; der dritte beleuchtet die Balkankriege und der vierte den Zweiten Weltkrieg. Abgedruckt sind fast ausschließlich historische Texte, sowie Fotos, Zeitungskarikaturen, Zeichnungen und Karten aus der jeweiligen Zeit. Nur wo es nötig ist, um einen Text zu verstehen, werden kurze Erläuterungen gegeben. Auf jeder Seite werden zudem Fragen gestellt, die in den Klassen beantwortet werden sollen. Zunächst ist englische Ausgabe erschienen, die mit Geldern des deutschen Auswärtigen Amtes, des amerikanischen Außenministeriums und des Balkan-Stabilitätspaktes finanziert wurde.

Wie entstehen Feindschaften?

Die Schüler sollen die verschiedenen Sichtweisen und Ansichten zu geschichtlichen Ereignissen in den einzelnen südosteuropäischen Ländern kennen lernen und auch sehen, wie Feindschaften entstanden sind. So zum Beispiel auf dem Weg vom 1. zum 2. Balkankrieg. In Bulgarien fühlte man sich von den anderen Bündnispartnern - Rumänien, Griechenland, Serbien und Montenegro - betrogen: Sie hätten sich nach dem Rückzug der Osmanen größere Gebiete angeeignet als ursprünglich vereinbart, in Sofia war vom "Wortbruch Serbiens" die Rede. In Belgrad und Athen wurde indes Stimmung gemacht mit der Losung, dass von den Bulgaren eine noch schlimmere Sklaverei als unter den Türken zu erwarten sei.

Positive Reaktionen

Das Geschichtsbuch soll nun aus dem Englischen in zehn südosteuropäische Sprachen übersetzt werden. Man verhandelt darüber mit den Bildungsministerien der einzelnen Länder. Über bisherige Erfolge und Misserfolge sagt Nenad Sebek: „"Ich bin sehr sehr überrascht, positiv überrascht, dass wir so eine positive Reaktion in Serbien gekriegt haben. Ich hab gedacht, da werden wir Probleme haben. Ich habe gehört, dass in Bulgarien die erste Reaktion sehr positiv war. In Kroatien gibt es ein anderes Problem: Dort hat uns das Ministerium bislang sehr höflich ignoriert, denn sie möchten überhaupt nichts zu tun haben mit dieser 'schmutzigen' Balkan-Region, sie sind Mitteleuropäer. In der Türkei wird es ein Problem geben, weil einer der Autoren unserer Bücher Hali Berktai ist: Er ist einer von zwei Experten in der Türkei, der über den Genozid an den Armeniern spricht. Deshalb ist er nicht populär in der Türkei. Und wenn die Politiker sehen, dass er einer von unseren Autoren ist, geht das nicht gut. Also, in jedem Land wird es ein anderer Krieg mit der Regierung, mit dem Ministerium sein. Ab und zu wird es ein Happy-End haben und ab und zu wird es kein Happy-End haben, aber wir versuchen es."

Langfristige Erfolge erwartet

Der Weg bis zur Einführung in all diesen Ländern wird nicht einfach: Die Lehrbücher stellen schließlich den bisherigen Geist des Geschichtsunterrichts in den südosteuropäischen Ländern in Frage - dass es nämlich nicht nur die eine, eigene Wahrheit gibt. Die vielen Perspektiven im Lehrbuch zeigen, dass die Geschichte eines jeden Landes nicht oder nicht nur durch Kontinuität, Homogenität und Eintracht gekennzeichnet ist, sondern auch durch Unterschiede und Konflikte. Nicht nur zwischen den Ländern sondern auch innerhalb der jeweiligen Gesellschaft. Nenad Sebek: „Das, was wir machen, braucht Zeit. Wir können nichts schnell schaffen. Dieses Geschichtsprojekt wird mindestens 15 oder 20 Jahre unterrichtet werden müssen, bis wir sagen können: Okay, wir haben Erfolg."

Panagiotis Kouparanis

DW-RADIO, 19.9. 2005, Fokus Ost-Südost