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Gespaltene Gesellschaft in der Türkei?

Yordanka Yordanova14. Juli 2013

Seit Wochen gibt es in der Türkei Proteste gegen die Politik Erdogans - bisher scheinbar nur mit mäßigem Erfolg. Aber es passiert etwas in der türkischen Gesellschaft. Was - darüber haben vier Türkei-Kenner diskutiert.

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Am 10. Juli fand in der Deutschen Welle eine Podiumskussion über die Situation in der Türkei statt. Teilnehmer: Dr. Lale Akgün (SPD-Politikerin), Canan Topcu (Journalistin), Bahaedin Güngör (Leiter der Türkisch-Redaktion in der Deutschen Welle) und Prof. Dr. Maurus Reinkowski von der Universität Basel. Moderator: Dietrich Schlegel (Vorsitzender der Deutsch-Türkischen Gesellschaft, Bonn) (Foto: DW)
DW-Podiumsdiskussion zur akltuellen Lage in der TürkeiBild: DW

"Der Protest wird nicht mehr aufhören. Der Geist des Widerstandes ist aus der Flasche raus. Die Leute werden so lange schreien und so lange Widerstand leisten, bis dieser liberale Geist in der Gesellschaft etabliert ist", sagt Dr. Lale Akgün. Die Kölner SPD-Politikerin und frühere Bundestagsabgeordnete kommentierte die Lage in der Türkei zusammen mit drei weiteren Türkei-Kennern - der türkischstämmigen Journalistin Canan Topcu, dem Leiter der Türkisch-Redaktion in der Deutschen Welle Bahaeddin Güngör und Prof. Dr. Maurus Reinkowski, Islamwissenschaftler an der Universität Basel. Die Podiumsdiskussion über die Ursachen und Auswirkungen der aktuellen Proteste in der Türkei wurde von der Südosteuropa-Gesellschaft und der Deutsch-Türkischen Gesellschaft in Kooperation mit der Deutschen Welle in Bonn organisiert.

"Auf der Straße sind alle, die gegen Erdogans autoritäre Führung sind. Da sieht man Hausfrauen mit ihren Töchtern, junge Paare, junge und alte Menschen, Fußballanhänger, Transsexuelle. Es sind alle da und das ist etwas, was man eigentlich in der Türkei zum ersten Mal erlebt - eine plurale Gesellschaft, in der man leben und leben lassen kann", erzählt Dr. Lale Akgün, die vor kurzem in der Türkei war und die Proteste miterlebt hat.

Die politische Geburt von Erdogan

Aber der Protest der Straße scheint Premierminister Erdogan nicht zu beeindrucken. Wie konnte jemand, der den Willen großer Teile seines Volkes ignoriert, an die Macht kommen? Ein kurzer Rückblick ins Jahr 2002: "Erdogan ist ein Ergebnis der Zersplitterung der etablierten Parteien vor seiner Zeit. Sie waren total in Machtkämpfe verstrickt", so Bahaeddin Güngör, Leiter der Türkisch-Redaktion der Deutschen Welle. "Keiner wollte nachgeben und man hatte eben eines vernachlässigt, nämlich die Erwartungen der Bevölkerung zu erfüllen. Und genau da ist Erdogan gekommen und hat gesagt, all diese Parteien habt ihr schon mal ausprobiert, probiert es mit mir aus. Genau das war sein Erfolgsgeheimnis. Und Erdogan hat davon profitiert, dass ihm politische Gegner gefehlt haben."

Jetzt sieht es anders aus. Recep Tayyip Erdogan hat mehrere Gegner - und das nicht nur in der Bevölkerung und der Opposition. Selbst in den Reihen seiner Partei – AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) ertönen bereits kritische Stimmen. Auch Staatspräsident Gül hat seine Kritik dem Premier nicht erspart. Die Polizeigewalt habe das in zehn Jahren mühevoll erworbene Ansehen der Türkei in zehn Tagen zerstört. "Das Verhalten von Erdogan erzeugt noch mehr Widerstand. Und wenn die AKP auseinanderbricht, könnte es ganz schnell mit Erdogan zu Ende gehen", so die Prognose von Dr. Lale Akgün.

Podiumsdiskussion zur Türkei Türkei  (Foto: DW)
Baha Güngör: "Erdogan hat davon profitiert, dass ihm politische Gegner gefehlt haben."Bild: DW

Der Geschmack der Politik

Ihrer Meinung nach haben die Proteste etwas erzielt, was für die türkische Gesellschaft ganz neu sei - die bisher apolitischen jungen Leute seien plötzlich zu einer politisierten Jugend geworden. "Die jungen Leute bekommen jetzt Geschmack an der Politik. Politik ist nichts anderes als die Gesellschaft zu gestalten. Politik heißt aber auch, den Willen zur Macht zu haben. Das heißt, diese jungen Leute müssen jetzt ihren Enthusiasmus, ihre Energie in Strukturen einfließen lassen, damit politische Strukturen entstehen, in denen sie auch nach der politischen Macht streben können - und dann die Legitimation haben, zu herrschen und zu gestalten."

Mit den Protesten kam auch die Frage auf, wie tief die türkische Gesellschaft gespalten ist - eine Gesellschaft, die aus mehreren Gruppen besteht, wie den Aleviten, den Säkularisten oder den Kemalisten. Alle Einteilungen würden aber in dem Fall zu kurz greifen, sagt Prof. Dr. Maurus Reinkowski von der Universität Basel. "Wir sehen in der Türkei ein relativ lebendiges und auch mit sehr vielen Ausfransungen versehenes Bild und gerade eben die jetzige Taksim-Bewegung zeigt ja, dass hier sehr unterschiedliche Strömungen, ursprünglich als Lager definiert, zusammenkommen und sich durchaus durch ein gemeinsames Anliegen zusammenfinden können."

Menschen protestieren im Gezi Park (Foto: AP Photo/Gero Breloer)
In Istanbul protestiert eine plurale Gesellschaft, sagt Lale AkgünBild: picture-alliance/AP Photo

Und dieser Faktor sei nicht zu unterschätzen. Er weise auf eine stärkere Selbstsicherheit der türkischen Zivilgesellschaft und auf die Überzeugung, dass politische Aktionen Dinge ändern können. Und das, so Prof. Reinkowski, sei ein kulturelles oder auch politisches Kapital, das in den nächsten Jahren seine Auswirkungen entfalten wird.

Die Solidarität - ein heikles Thema?

Auch in Deutschland mobilisiert der Protest gegen Erdogan viele Menschen. Die Journalistin Canan Topcu sieht aber einen Unterschied zwischen den Protestierenden in den beiden Ländern: "Ich habe hier viel mehr die Splitterungen wahrgenommen. Ich habe mit Leuten gesprochen, die zum Beispiel gesagt haben: Mit den Kemalisten gehen wir nicht auf einen Platz und demonstrieren. Ich bin der Ansicht, dass es in der Türkei anders ist, dass die Menschen, die einen Grund haben unzufrieden zu sein, zusammenkommen konnten, um gegen die AKP-Regierung und gegen Erdogan zu demonstrieren. Aber hier war das eigentlich nicht so."

Podiumsdiskussion Türkei (Foto: DW)
Teilnehmer der Podiumsdiskussion (von l. nach r.): Maurus Reinkowski (Universität Basel), Canan Topcu (Journalistin), Moderator: Dietrich Schlegel (Vorsitzender der Deutsch-Türkischen Gesellschaft, Bonn), Lale Akgün (SPD-Politikerin), Bahaeddin Güngör (Leiter der Türkisch-Redaktion in der Deutschen Welle)Bild: DW

Die Journalistin befürchtet, dass die Protestaktionen in den deutschen Städten einen Einfluss auf die Wahrnehmung von den türkischen Migranten haben könnte. "Ich glaube, dass weder diese Großkundgebung von der alevitischen Gemeinde, noch die von den Pro-Erdogan-Vereinigungen dazu beitragen, das Image der Deutsch-Türken hier aufzupeppen, weil damit demonstriert wird, die Leute sind viel stärker mit dem Herkunftsland verbunden als mit Deutschland." Und dies könnte gerade bei den Kritikern, die Muslime als Integrationsverweigerer sehen, nicht gut ankommen, fügt Canan Topcu hinzu.

Die Türkei - ein schwieriger Fall

Das Verhalten Deutschlands ist ausschlaggebend in einem der Türkei bisher wichtigen Anliegen - dem EU-Beitritt. Trotz des gewaltsamen Vorgehens gegen Demonstranten will Bundeskanzlerin Angela Merkel die Beitrittsgespräche fortsetzen. Doch welches Ergebnis könnten die Gespräche haben? Bahaeddin Güngör: "Die Türkei ist nicht händelbar. Man kann die Türkei nicht einfach mit Rumänien, Bulgarien oder anderen Ländern vergleichen, wo es natürlich große Probeme gibt auch als EU-Mitglied. Aber diese Probleme kann man händeln, da ist alles durchschaubar."

Außerdem sei die Türkei mit ihrer Nachbarschaft in einer schwierigen Situation, so Güngör. "Sie hat Syrien, Irak, Iran, eben den unruhigen Kaukasus. All das führt dazu, dass die Türkei wirtschaftlich, gesellschaftlich, aber dazu auch noch von der Außenpolitik her betrachtet, kein einfaches Land sein dürfte und es wird sehr schwierig sein, die Türkei überhaupt in der EU zu sehen."