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Gewalt im privaten Pflegealltag

17. Juni 2011

Viele Pflegebedürftige werden Opfer von Gewalt. Vernachlässigung und Misshandlung sind nicht nur in Seniorenheimen ein Thema. Pflegt ein Angehöriger zu Hause, steht er vor vielen Herausforderungen.

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Eine Pflegerin schiebt eine alte Frau im Rollstuhl (Foto: AP)
Zwei Drittel aller Pflegebedürftigen werden zu Hause versorgtBild: AP

"In der Pflege muss man sich von seinem eigenen, normalen Leben verabschieden und sich wirklich auf das Leben und den Rhythmus des zu pflegenden Angehörigen einlassen", sagt Sonja W. Seit fünf Jahren pflegt sie ihre kranke Mutter Elfriede. Sonja W. kümmert sich um alles. Sie wäscht ihre 82-jährige Mutter, geht mit ihr zum Arzt, kocht ihr Essen und sorgt dafür, dass sie genug trinkt. So wie Sonja W. haben sich viele dafür entscheiden, ihre Angehörigen selbst zu pflegen. Fast 70 Prozent der über 2,3 Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland werden zu Hause versorgt. Je nach Schwere der Krankheit ist das für alle eine enorme Belastung.

Elfriede W. kann ihr Gleichgewicht nicht mehr halten und ist ständig in Gefahr zu fallen. Immer muss jemand anwesend sein und aufpassen. Sonja ist rund um die Uhr für ihre Mutter da. Die Beziehung der beiden ist angespannt und Konflikte sind unausweichlich. "Da toben Grabenkriege. Da sind ganz kleine Bosheiten, die diese Beziehung 'Ich pfleg dich, ich will lieb zu dir sein und dir etwas Gutes tun' unglaublich belasten." Leicht ist der Pflegealltag von Sonja W. nicht. Durch die tägliche Belastung sei die Situation auch schon eskaliert, berichtet sie. Doch bisher sei es ihr immer gelungen, die Lage rechtzeitig zu entspannen.

"Rindvieh, Saubär"

So glimpflich verläuft es nicht immer. Gewalt in den eigenen vier Wänden ist bei der Pflege kein Einzelfall. Man könne davon ausgehen, dass es in der Hälfte der familiären Pflegebeziehungen schon einmal zu Gewalt gekommen ist, berichtet Rolf Hirsch, Leiter der Abteilung für Gerontopsychiatrie einer Klinik in Bonn. Für den Alterspsychiater fängt Gewalt schon beim bösen Wort an: "Wenn ich jetzt einmal sage: Du Rindvieh, dann ist das sicher nicht so tragisch. Wenn ich es aber betone: Du Rindvieh hast schon wieder in die Hose gemacht, du Saubär, dann erniedrige ich meinen Gegenüber. Da beginnt schon die Gewalt."

Marita Halfen an einem Infostand (Foto: DW)
Marita Halfen klärt an einem Infostand des Vereins "Handeln statt Misshandeln" über Gewalt gegen Ältere aufBild: DW

Hirsch gründete 1997 den gemeinnützigen Verein "Handeln statt Misshandeln", eine Initiative gegen Gewalt im Alter. Zur Beratungsstelle führt eines der deutschlandweit 17 Notruftelefone für alte Menschen. Der Verein ist unter anderem eine Anlaufstelle für Pflegende, die mit ihrer Situation nicht mehr zurechtkommen. Aber nicht immer kommen die Betroffenen freiwillig, weiß Marita Halfen, die seit 13 Jahren ehrenamtlich für die Initiative arbeitet. Oft bekommt die Sozialpädagogin Hinweise auf Gewalt von Nachbarn oder dem ambulanten Pflegedienst. Dann geht sie direkt zu den Angehörigen nach Hause, redet mit ihnen und versucht, die Ursachen für die Gewalteskalation herauszufinden.

Überforderung ist oft ein Grund für Gewalt

Pflegende werden zu oft alleine gelassen. Viele seien sich, wenn sie die Pflege eines Angehörigen übernehmen, nicht über die Ausmaße dieser Entscheidung im Klaren, findet Marita Halfen. "Wenn jemand zum Beispiel an Demenz erkrankt ist, dann kann ich mich mit ihm nicht mehr austauschen. Da ist ja nichts mehr. Das kann auf Dauer aggressiv machen. Der Andere ist aber oft auch aggressiv, weil er hilflos ist." So komme eine gegenseitige Aggression auf, die auch in Gewalt eskalieren könne.

Ein junger Mann füttert eine bettlägerige alte Dame (Foto: dpa)
Die Pflege eines Angehörigen dauert im Schnitt zehn JahreBild: picture-alliance/ dpa

Macht und Ohnmacht, Wut und Angst, Hilflosigkeit und Schuldgefühle - aus diesen Emotionen kann schließlich Gewalt entstehen. Die Pflege eines Angehörigen ist eine Dauerbelastung. Viele Pflegende sind erschöpft und sozial isoliert, weil sie ihre eigenen Bedürfnisse gegenüber Familie, Freunden oder dem Beruf vernachlässigen müssen. Oft eskaliert die Situation aber erst nach Jahren, wobei eine Pflege im statistischen Durchschnitt etwas weniger als zehn Jahre dauert.

Noch zu wenige Anlaufstellen

Hilfsangebote sind zwar vorhanden, müssten jedoch für die Regionen zentral gebündelt werden, meint Altersmediziner Hirsch.
Dann hätte der Angehörige eine Anlaufstelle, die ihn über alle Möglichkeiten beraten und Hilfsangebote vermitteln könne. An solchen zentralen Stellen fehlt es nach Meinung von Rolf Hirsch in vielen Regionen. Darüber hinaus sei die Hemmschwelle, sich an diese Stellen zu wenden, bei vielen Betroffenen noch sehr hoch. "Viele Angehörige schämen sich auch heute noch, irgendeine Form von Hilfe anzunehmen. Weil sie meinen, sie müssten das alles alleine schaffen."

Rolf Hirsch (mit Helma Schönenberg) an einem Leierkasten (Foto: DW)
Rolf Hirsch (mit Helma Schönenberg) setzt auf Humor, um Betroffene zu erreichenBild: DW

Mut zur Hilfe

Sonja W. holt sich Hilfe. Zwei bis drei Mal in der Woche kann sie ihre Mutter in eine Tagespflege geben. Die Pflege hat das Leben der ehemals Selbstständigen dramatisch verändert, denn für ihre Mutter gab sie ihren Beruf im Bereich Marketing auf. Nachdem alle Ersparnisse aufgebracht waren, lebt die 51-Jährige nun von Hartz IV. Dass sich ihre Lage so entwickeln würde, hätte sie vor fünf Jahren nicht für möglich gehalten. Im Nachhinein hätte sie sich damals jemanden gewünscht, der sie ausführlich darüber aufklärt, was nun auf sie zukommen kann, und ihr Hilfsmöglichkeiten aufzeigt. "Aber das passierte ja nicht", sagt Sonja W. resignierend. "Sie bekommen einen Anruf aus dem Krankenhaus und Ihnen wird gesagt: Morgen wird ihre Mutter entlassen. Holen Sie sie zu sich, oder geht’s in ein Heim? Und dann stehen Sie da und überlegen. Sie können da eigentlich nur sagen: Ich hol sie."

Autorin: Eva Huber

Redaktion: Arne Lichtenberg