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Die Blechtrommel

16. Oktober 2009

1959 erschien der erste Roman von Günter Grass, 'Die Blechtrommel'. Das Buch war die literarische Sensation des Jahres und ist zu einem der wichtigsten Bücher der deutschen Nachkriegsliteratur geworden.

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Szene aus dem Film "Die Blechtrommel" (Foto: Ullstein-Bild)
Können diese Trommler-Augen lügen?Bild: ullstein bild - KPA

Günter Grass lässt einen erzählen, an dessen Seriosität aus gutem Grund gezweifelt werden darf: Oskar Matzerath, ein Zwerg und Paranoiker, ist Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt. Hier nun hat er, kurz vor seinem dreißigsten Geburtstag, seine Lebensgeschichte zu Papier gebracht - in einem wuchtigen Schelmenroman, in dem er rücksichtslos realistisch seine Vergangenheit so darstellt, wie er sie subjektiv erfahren hat. Schon als Embryo will Oskar, dieser unsympathische, asoziale und größenwahnsinnige Außenseiter, über die Gabe der Einsicht verfügt haben. Die Welt, so wie sie ist, lohnt das Mitmachen nicht, also verweigert Oskar jegliche Teilhabe an ihr.

Embryonale Kopflage und Wachstumsverweigerung

Konsequenterweise beendet er mit drei Jahren sein Wachstum und erschafft sich als Künstler eine eigene Welt – mit seiner weißroten Kindertrommel, von der er sich nie wieder trennen wird. Denn mit diesem albernen Blechspielzeug geht der Zwerg gegen Gott und die Welt an, mit ihm beschwört er die Vergangenheit, und trommelnd protestiert er gegen den kleinbürgerlichen Mief der Erwachsenenwelt, von deren Unzulänglichkeit er seit der Stunde seiner Geburt zutiefst überzeugt ist:

Schriftsteller Günther Grass (Foto: AP)
Aus seinem Hirn stammt Oskar: Günther GrassBild: AP

"Einsam und unverstanden lag Oskar unter den Glühbirnen, folgerte, dass das so bleibe, bis sechzig, siebenzig Jahre später ein endgültiger Kurzschluß aller Lichtquellen Strom unterbrechen werde, verlor deshalb die Lust, bevor dieses Leben unter den Glühbirnen anfing; und nur die in Aussicht gestellte Blechtrommel hinderte mich damals, dem Wunsch nach Rückkehr in meine embryonale Kopflage stärkeren Ausdruck zu geben. Zudem hatte die Hebamme mich schon abgenabelt; es war nichts mehr zu machen."

Erotische Literatur und Kleinkindmaske

In der Maske des Kindes und des Kleinwüchsigen fühlt Oskar sich wohl, sie sichert gelegentlich sein Überleben und schützt ihn vor jeder Form von Erziehung und der Integration in das bürgerliche Leben. Er bildet sich bei Goethe und Rasputin, bringt seine Mutter und die beiden mutmaßlichen Väter ins Grab und erzählt immer neue Schauerlichkeiten aus seiner scheußlichen Kindheit, die möglich wurde, weil sein verfolgter polnisch-nationaler Großvater sich unter die vier Röcke der kaschubischen Anna Bronski geflüchtet hatte und daselbst "unter Qualm, Ängsten, Seufzern, unter schrägem Regen und leidvoll betonten Vornamen der Heiligen, unter den einfallslosen Fragen und rauchgetrübten Blicken zweier Landgendarmen"

Oskars Mutter Agnes zeugte. Selbige wiederum liebte später ihren Cousin Jan, ehelichte aber den protestantischen Kolonialwarenhändler Alfred Mazerath und lebte ihre sexuellen Phantasien gemeinsam mit der Bäckersfrau Gretchen Scheffler beim Lesen von erotischer Literatur aus. Oskar entgeht all das nicht, wie ihm überhaupt nichts entgeht. Und er reagiert auf seine Weise, hat einen dämonischen Einfluss auf die Menschen. Mit seiner Stimme, die akustische Wunder vollbringen kann, mit der Blechtrommel, die Teil seines Körpers und seiner Seele ist, und in der Maske des Dreijährigen zwingt er ihnen seinen Willen auf, spielt mit ihnen und bringt dabei leidenschaftlich gerne die Fassade kleinbürgerlicher Existenzen ins Wanken.

Nachfolger Christi mit Trommelkünsten

Er zeugt ein Kind mit seiner späteren Stiefmutter und betrachtet sich als Nachfolger Christi, aber versagt sich jedes politische Denken. Er wird Künstler am Fronttheater und dann Steinmetz, Aktmodell, Jazzschlagzeuger, reicher Gnom und schließlich Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt. Hier nun entfalten sich seine Trommelkünste zur Perfektion, denn Oskar gelingt es, sich in Episoden der Vergangenheit zurück zu trommeln und sie als Wissender, Erkennender zu beschreiben.

Szene aus dem Film "Die Blechtrommel" (Foto: Ullstein-Bild)
Charmeur Oskar hat Schlag bei FrauenBild: ullstein bild - KPA

"Sonst änderte sich nicht viel. Über dem Piano wurde das Bild des finsteren Beethoven, ein Geschenk Greffs, vom Nagel genommen und am selben Nagel der ähnlich finster blickende Hitler zur Ansicht gebracht…(....) So kam es zu jener finstersten aller Konfrontationen: Hitler und das Genie hingen sich gegenüber, blickten sich an, durchschauten sich und konnten dennoch aneinander nicht froh werden".

Mit größter Genauigkeit erzählt Günter Grass diese Geschichte, erzählt er all diese Geschichten in der Geschichte - ohne Rücksicht, schockierend selbstverständlich, naiv und unerschrocken aus der Froschperspektive, in der es keine Tabus gibt, sondern vielmehr breiten Raum auch für das Verschwiegene: die Sexualität in all ihren Schattierungen und brutalen Varianten, die Verführbarkeit des deutschen Volkes. Die ganze Schäbigkeit des kleinbürgerlichen Nazi-Milieus in der Freien Stadt Danzig offenbart sich so. Und auch die restaurative Adenauer-Bundesrepublik nimmt unvergessliche Gestalt an.

Autorin: Silke Bartlick

Redaktion: Marlis Schaum