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Graswurzelaktivismus

Konstantin Klein26. Oktober 2004

Das Internet verschafft jedem die Möglichkeit, seine Meinung oder auch seinen Ärger kundzutun. Das kann helfen, Missstände zu beseitigen - es kann aber auch einfach nur zu Peinlichkeiten und Blamagen führen.

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Früher war alles ganz einfach: Wer etwas zu sagen hatte oder das vielleicht auch nur glaubte, brauchte Zugang zu den Massenmedien. Der Besitz eines Zeitungsverlages war in dieser Hinsicht schon enorm hilfreich, zur Not taten es auch gute Kontakte zur Inhaberschaft einer Gesellschaft für Außenwerbung, vulgo: Plakatwandaufstellung. Allen, die weder das eine noch das andere besaßen, blieb nur, mit ausgefeilten, wahlweise brachialen Leserbriefen den Redakteuren der Leserbriefseiten auf die Nerven zu gehen, oder sich in einer selbst gelöteten Talkshow in einem der vielen Offenen Kanäle (Public Access Channels) dieser Welt unsterblich zu blamieren.

Wie gut, dass wir das Netz der Netze haben, denn es machte uns beides einfacher - den Zugang zu den (aus unserer Sicht) ungebildeten Massen und gegebenenfalls auch das Blamieren.

Schritt zur Weltherrschaft

Heute genügt ein Billig- oder Gratisaccount bei einem großen Internet-Dienstleister, um - theoretisch - ein Millionenpublikum zu erreichen. Kenntnisse der Internet-Sprache HTML, so versichern uns diese Dienstleister gerne, sind nicht unbedingt erforderlich, und der Mangel daran erhöht die Chancen der Blamage beträchtlich. Wer aber einen einigermaßen sauber wirkenden Webauftritt zusammenbekommt, hat die ersten Schritte zur Weltherrschaft schon hinter sich.

Und wofür oder wogegen im Netz schon Politik gemacht wird! Am bekanntesten, und in den deutschen Medien auch am liebsten zitiert sind Amerikaner, die ihre Meinung über den gegenwärtigen US-Präsidenten und/oder seinen Herausforderer kundtun, ungehindert von technischen Beschränkungen, publizistischen Standards oder auch nur den nackten Tatsachen. Was in Deutschland Gegenstand einer handfesten Beleidigungsklage wäre, fällt in den USA unter den Schutz des First Amendment, das in der US-Verfassung für die Redefreiheit zuständig ist, und trägt gerne das Etikett des "Grassroots Journalism", was mit "Journalismus von unten“, also von den Wurzeln der Grashalme her, gar nicht schlecht übersetzt ist. Übrigens: Google verzeichnet ungefähr 211.000 Treffer zu der Anfrage "George Bush sucks“, aber nur 194.000 zu "John Kerry sucks“.

Holzmichl und Lurchi

Doch während man in den USA versucht, nationale Politik - und indirekt auch Weltpolitik - von den Grashalmen her zu machen, konzentriert man sich in Deutschland lieber auf handfeste Dinge. "Tötet den Holzmichl“ ist das Anliegen einer Gruppe aus dem lieblichen Thüringen, und die Geschichte dahinter beginnt mit einer musikalischen Anfrage, gestartet von der auf Volkstümliches spezialisierten Musikertruppe "De Randfichten“, die sich Sorgen um den Gesundheitszustand des besagten Holzmichls macht. Der Fall ist derzeit gerichtsanhängig, erstaunlicherweise nicht vor einer auf Mordfälle spezialisierten Strafkammer, sondern vor einem Richter für Marken- und Urheberrecht, und der Aufruf zum Mord an der Kunstfigur ist zurzeit offline.

Währenddessen spielt sich in einer anderen, friedlicheren Ecke des Netzes wieder mal eine Revolution ab. Im Mittelpunkt: "Lurchi“, seit Jahrzehnten beliebte Reklamefigur für einen Schuhhersteller. Dieser Schuhmacher steht jetzt vor der Insolvenz, und statt sich um die gefährdeten Arbeitsplätze Sorgen zu machen, kämpfen deutsche Webseiten reihenweise für das Überleben Lurchis, der die (bundes)deutsche Jugend offenbar nachhaltiger beeindruckt hat als die von ihm beworbenen Treter. Werbebuttons und Werbebanner tauchen vermehrt auf, und es erschallt in bester Lurchitradition der Spruch, demnächst wohl auch im MP3-Format:

"Und der Schrei schallt es durch und durch: Wir sind der Lurch! Wir sind der Lurch!“

Und ohne das Netz der Graswurzeln wären wir einfach nur das Volk.