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Grenzenlose Perspektiven im Böhmerwald

29. Januar 2012

Der Eiserne Vorhang war in Bayerisch Eisenstein besonders sichtbar. Die Grenze verlief mitten durch den Bahnhof. Zwanzig Jahre nach der politischen Wende gelingt eine allmähliche Annäherung zwischen Bayern und Tschechen.

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Historische Postkarte vom Grenzbahnhof in Bayerisch Eisenstein. Zur rechtefreien Nutzung zur Verfügung gestellt von Gemeinde Bayerisch Eisenstein. Zulieferer: Karin Jäger
Der Grenzbahnhof im PostkartenformatBild: Gemeinde Bayerisch Eisenstein

Erhard Gattermann genießt den freien Blick vom Arber auf den schneebedeckten Böhmerwald. Der 83-Jährige ist passionierter Skiläufer und Skilehrer. Jeden Tag schnallt er die Bretter unter seine Füße und kurvt die Hänge der mit 1456 Metern höchsten Erhebung der bayerisch-böhmischen Grenzlandschaft herunter, zunehmend von tschechisch sprechenden Alpinisten umgeben. "Die Tschechen entpuppen sich als Skifahrervolk. Die haben Nachholbedarf, weil die früheren sozialistischen Machthaber in Prag den alpinen Skisport nie gefördert haben", freut sich Gattermann. Geboren wurde er als Sudetendeutscher auf tschechischer Seite, nach der Vertreibung der Deutschen durch die Tschechen nach dem Zweiten Weltkrieg ist er in Bayerisch Eisenstein gelandet, dem Ort am Fuße des Arber. "Rein geografisch ist alles hier Böhmerwald, erst aufgrund der politischen Grenzziehung nach dem Zweiten Weltkrieg entstand der Name Bayerischer Wald", erklärt Erhard Gattermann.

Das belastende Leben an der undurchlässigen Grenze

Jeden Tag aufs Neue freut er sich über die Freiheit, ungehindert das Gebiet im Nachbarland zu erkunden. Oft ist er mit dem Rennrad unterwegs. Nach 1990 habe sich eine neue Welt eröffnet. Nie habe er zu träumen gewagt, diese zu erleben. "Wir haben uns immer nach Süden und Westen orientiert. Der Osten war tabu."

Erhard Gattermann, passionierter Skilehrer und ehemaliger Schulleiter in Bayerisch Eisenstein. Aufnahme: 24.01.2012/ Karin Jäger. Rechte an DW abgetreten.
Skiprofessor Erhard GattermannBild: DW

Hin und wieder denkt er mit Schaudern an die Zeit vor der politischen Wende zurück. "Es war tagtäglich ein unheimliches und beklemmendes Gefühl, weil die Grenze hermetisch geschlossen war. Ab und zu hörten wir Schüsse oder Hundegebell. Da hatte wohl wieder jemand versucht zu fliehen." Die damalige Tschechoslowakei war mit einem dreifachen Drahtzaun "geschützt", das ganze Gebiet vermint, um die Bürger im Osten an der Flucht zu hindern. Nach der Wende sei die Kontaktaufnahme zunächst von Misstrauen geprägt gewesen, da die politische Führung im Grenzgebiet systemtreue Kommunisten angesiedelt habe, die vor 1989 garantiert nicht Fahnenflucht begehen wollten.

Im Westen an der Zukunft bauen

Richard Windsors Eltern wollten in den Westen. Die Immobilienpreise zogen nach der Wende im Osten so stark an, dass es günstiger wurde, ein Haus in Deutschland zu kaufen als in Tschechien, erinnert sich Windsor. Völlig entspannt und mit einem breiten Grinsen sitzt er hinter der Theke der Tourist-Info, spricht perfekt Bayerisch und rollt das "R" wie der in Deutschland bekannteste Tscheche, der Sänger Karel Gott.

Richard Windsor, tschechischer Auszubildender der Tourist Info Bayerisch Eisenstein. Aufnahme: 24.01.2012/ Karin Jäger. Rechte an DW abgetreten.
Tschechischer "Import": Richard WindsorBild: DW

Der 21-Jährige wird zum Kaufmann für Tourismus und Freizeit ausgebildet. Er ist der erste tschechische Azubi bei einer Behörde in Deutschland. Immer wieder fragen ihn Touristen, wie es denn früher war. "Ich kann mir das gar nicht vorstellen, wie es ist, mit einer ständigen subtilen Bedrohung zu leben. Das muss grausam gewesen sein", sagt Windsor.

Die deutsche Sprache eröffnet den Tschechen gute Chancen

Richard Windsor hat eine deutsche Verlobte. "Vor noch fünf Jahren waren solche Verbindungen eher ungewöhnlich", sagt der angehende Tourismuskaufmann. Aber Vorurteile gibt es nach wie vor.

"Mindestens zwei Mal im Monat kommen Fremde, die fragen, ob man gefahrlos die Grenze passieren kann und ob Gefahr besteht, dass das Auto geklaut werden könnte." Die Tschechen haben weniger Vorbehalte. Immer mehr lassen sich hier dauerhaft nieder, weil die jungen Leute wegziehen aus dem strukturschwachen Niederbayern und Wohnraum günstig zu haben ist. "So gibt es weniger Leerstand als zu befürchten wäre, und im Kindergarten sind viele Kinder tschechischer Eltern", stellt Thomas Müller erfreut fest.

Bei Qualität und Service sind die Bayern einen Schritt voraus

Der Bürgermeister war es auch, der Richard Windsor einstellte, weil es wichtig sei, sich auf die Kundschaft aus dem Nachbarland einzustellen. Die Tschechen kommen sogar mit Bussen zum Shoppen und mit üppig gefüllten Geldbeuteln. Die beiden Sportgeschäfte am Ort haben sich auf die große Nachfrage eingestellt. Mit dem enormen Angebot an internationalen Marken stehen sie großen Läden in München in nichts nach. In allen Läden und Hotels arbeiten wie selbstverständlich Tschechen. Bei der Entrichtung der öffentlichen Abgaben wie Kurtaxe allerdings sei so mancher tschechische Vermieter etwas nachlässig, lacht der Bürgermeister und wird sogleich nachdenklich: "Die Furcht vor Überfremdung ist bei einigen deutschen Einwohnern schon spürbar." Die größte Barriere zwischen den beiden Völkern sei immer noch die Sprache, erklärt der Behördenchef. Kaum ein deutscher Grenzbewohner spricht die Sprache der Nachbarn. Was die Währung betrifft, sind die Tschechen auch toleranter. Im Restaurant und dem Kiosk auf der tschechischen Seite des Bahnhofs kann der Gast selbstverständlich mit Euro und tschechischen Kronen zahlen.

Thomas Müller, 1. Bürgermeister von Bayerisch Eisenstein sitzt am Schreibtisch. Aufnahme: 24.01.2012/ Karin Jäger. Rechte an DW abgetreten.
Bürgermeister Thomas MüllerBild: DW

Lange Endstation Freiheit - jetzt Zukunftsprojekt

Überhaupt ist der Bahnhof, abgesehen von der unberührten waldreichen Natur, das interessanteste Relikt vergangener Zeiten in Bayerisch Eisenstein. Mit 136 Metern Länge sehr imposant für einen Ort mit gut 1000 Einwohnern. Die Grenze verläuft exakt durch die Mitte des Gebäudes. Es wurde ab 1874 von den österreichischen und bayerischen Königshäusern an der Eisenbahnstrecke München-Prag errichtet – als Symbol der Freundschaft beider Monarchien. Heute hält die Waldbahn jede Stunde, um dann wieder zurück nach Plattling zu rollen. Wer weiter will nach Pilsen und Prag, hat die Möglichkeit, in einen Zug der tschechischen Bahn umzusteigen, erläutert Hartwig Löfflmann, der im Auftrag des Naturparks Bayerischer Wald mit dem Umbau des Bahnhofs auf deutscher Seite beschäftigt ist. Bis 2014 sollen auf fünf Etagen ein Skimuseum, eine Ausstellung zum Arber und eine zum Thema Eisenbahn entstehen. Im Dachgeschoss soll eine riesige Modelleisenbahn aufgebaut werden in authentischer Landschaft zwischen Donau und Moldau, und der Gewölbekeller wird Herberge für das europäische Fledermauszentrum.

Zug der Waldbahn endet auf der deutschen Seite des deutsch-tschechischen Grenzbahnhofs in Bayerisch Eisenstein. Aufnahme 24.02.2012 von Karin Jäger. Rechtefrei.
Hier hält die bayerische WaldbahnBild: DW
Keine Grenze nur ein Bauzaun! Vorderansicht Grenzbahnhof Bayerisch Eisenstein mit Hartwig Löfflmann vom Naturpark Bayerischer Wald. Aufnahme: 24.01.2012/ Karin Jäger. Rechte an DW abgetreten.
Kein Grenze - nur Bauzaun und Hartwig LöfflmannBild: DW

Die Mauer, die das Gebäude teilte und die Menschen trennte, ist verschwunden. Zwei Plexiglasscheiben und ein Grenzstein deuten an, wo die zwei Welten einst endeten. Die historische Halle war Niemandsland zu Zeiten des Kalten Krieges, nicht zugänglich. "Grenzen bestehen ohnehin nur in den Köpfen der Leute", gibt Löfflmann zu verstehen. "Die Tiere kennen keine Grenzen."

Die deutsch-tschechische Grenze verlief bis 1990 mitten durch den Raum im Grenzbahnhof Bayerisch Eisenstein. Aufnahme: 24.01.2012/ Karin Jäger. Rechte an DW abgetreten.
Die Grenze verlief durch die HalleBild: DW

Hier können sich jetzt schon Besucher über den Nationalpark Bayerischer Wald und das Landschaftsschutzgebiet Šumava auf tschechischer Seite informieren. Auch darüber, dass es bis zum Zusammenbruch des Ostblocks einen fünf Kilometer breiten Landschaftsstreifen gab, ein Glücksfall für Flora und Fauna, weil störungsempfindliche Arten ihre Rückzugsräume fanden. So gibt es Auerhühner und Luchse. Bären und Wölfe dagegen haben sich in diesem Gebiet nicht angesiedelt, erklärt Löfflmann.

Grenzbahnhof wird Erlebnisstätte

Nach der Fertigstellung kann der Gast seinen Hunger stillen im ehemals historischen Gourmetrestaurant, das früher den Reisenden der ersten Klasse vorbehalten war. Die Bauarbeiten auf tschechischer Seite sind, dank EU-Finanzhilfen, schon abgeschlossen.

Sortiment im Kiosk auf der tschechischen Seite des Grenzbahnhofs Bayerisch Eisenstein. Aufnahme: 24.01.2012/ Karin Jäger. Rechte an DW abgetreten.
Alles billig! Tschechische Waren im GrenzkioskBild: DW

Das Bahnhofsrestaurant suchen eher Touristen denn Reisende auf, um böhmische Knödel oder Honigkuchen zu genießen oder im Kiosk tschechische Spezialitäten wie den Magenbitter Becherovka, Oblaten oder Honig zu kaufen. Reisende, die den letzten Zug verpasst haben, können in der Pension im oberen Stockwerk übernachten. Wer vorher reservieren will, muss das über den 2,5 Kilometer entfernten Ort Železná Ruda tun. Noch. Richard Windsor würde gerne nach Abschluss seiner Lehre weiter in Bayerisch Eisenstein arbeiten. "Ich stelle mir vor, dass wir die grenzüberschreitende Zusammenarbeit intensivieren. Und vielleicht haben wir ja in fünf Jahren eine gemeinsame Zimmervermittlung mit dem tschechischen Nachbarort Železná Ruda." Sicher ein weiterer Schritt zur Völkerverbindung und der Annäherung zwischen Tschechen und Bayern.

Autorin: Karin Jäger
Redaktion: Nicole Scherschun