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Große Unterschiede zwischen Stadt und Land

3. Dezember 2001

– Polens Städte hoch entwickelt, auf dem Land Lebensbedingungen und Infrastruktur nach wie vor schlecht

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Danzig, den 28.11.2001, SOLIDARNOSC, poln.

Die Entwicklung in den polnischen Dörfern unterscheidet sich immer mehr von dem Rest des Landes und diese Diskrepanz wird von Jahr zu Jahr größer. Die Menschen auf dem Lande leben nicht so lange und unter schwierigeren Bedingungen, haben einen schwierigeren Zugang zu Schulen und Ärzten und ihr Einkommen ist um ein Drittel geringer als in den Städten. Dies alles trägt dazu bei, dass uns die polnische Landwirtschaft vor der bevorstehenden Aufnahme in die EU eher zu den schwach entwickelten Staaten qualifiziert.

In dem neusten Bericht, der von der Kommission für Entwicklung (UNDP) bei der UNO vorbereitet wurde, wird die Unterentwicklung der Dörfer in Polen anhand der Schätzung des Bruttoinlandproduktes sehr deutlich dargestellt: 1997 betrug das BIP in Polen durchschnittlich 7320 Dollar pro Kopf, aber auf dem Lande belief es sich auf lediglich 6 100 Dollar. Die Lage war am schlimmsten in den östlichen und südlichen Gebieten Polens, wo das BIP pro Kopf unter 5 200 Dollar lag.

Die Unterschiede zwischen den Städten und den Dörfern werden durch den Vergleich des Richtwertes der sozialen Entwicklung, d.h. des Human Development Index (HDI) (...) noch sichtbarer: Es erweist sich nämlich, dass der HDI in ganz Polen 0,809 beträgt. Dies sichert uns den 44. Platz auf der Welt und gleichzeitig den drittletzten auf der Liste der hoch entwickelten Staaten. Der HDI auf dem Lande beträgt jedoch nur 0,794 und dies platziert uns unter die Entwicklungsländer wie Trinidad, Tobago und Litauen.

Alles deutet also darauf hin, dass Polen in Wirklichkeit aus zwei verschiedenen Staaten besteht: Das eine Polen sind die Städte, die zu den hoch entwickelten Ländern gehören und das andere sind die polnischen Dörfer, die diese Barrieren noch nicht überwunden haben.

Das Leben auf dem Lande ist schwerer und ärmer als in den Städten. Das ist zwar nichts Neues, aber das Ausmaß der Unterschiede zwischen Städten und Dörfern ist verblüffend und wird in dem Bericht "Polen 2000 - Die Entwicklung der Dörfer" ausführlich beschrieben. (...)

Aus den Untersuchungen des Hauptamtes für Statistik (GUS) über die Armut geht hervor, dass im Jahre 1998 das Einkommen von 42 Prozent der Haushalte auf dem Lande unter der Armutsgrenze lag. Weitere 20 Prozent der Dorfbewohner fürchteten sich vor einer Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen und nur acht Prozent waren mit ihrer finanziellen Lage zufrieden.

Heute können von großem Glück nur jene Familien auf dem Lande sprechen, zu denen ein Rentner oder eine Person gehört, die Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung oder auf Sozialhilfe hat. Die Abschaffung der staatlichen Subventionen für Lebensmittel im Jahre 1990 und die Flut der ausländischen Waren auf dem Markt trugen dazu bei, dass es immer schwieriger wird, einheimische landwirtschaftliche Erzeugnisse zu verkaufen.

Nach einigen Aussagen befindet sich die polnische Landwirtschaft in einem Zustand permanenter Überproduktion landwirtschaftlicher Erzeugnisse. Diese Lage wird nicht einmal durch die Angst vor BSE oder vor der Maul- und Klausenseuche beeinflußt. Aus diesem Grunde produziert fast die Hälfte der landwirtschaftlichen Betriebe heute nur noch für den Eigenbedarf (...)

Angesicht solch einer Situation ist es also nicht verwunderlich, dass bei ständig steigenden Unterhaltskosten die Einkünfte vieler landwirtschaftlicher Betriebe immer geringer werden. Noch 1993 lagen sie bei über 77 Prozent der Einkünfte der Stadtbewohner, aber 1998 sanken sie auf 70,2 Prozent.

Es gibt natürlich auch landwirtschaftliche Betriebe, die mit der neuen Situation sehr gut zurechtkommen. Die besten Ergebnisse auf dem Markt erzielen größere landwirtschaftliche Betriebe (von mindestens zehn Hektar), die sich auf die Produktion eines konkreten Produktes spezialisieren. Leider gehören sie zu der Minderheit.

Zu der Minderheit gehören aber auch landwirtschaftliche Betriebe mit Wasser- und Kanalisationsanschluß. In Polen gibt es 700 Gemeinden ohne Kanalisation. Kläranlagen sind nur für 2,5 Prozent aller polnischen Dörfer vorhanden. Die typische Form der Heizung bleibt weiterhin ein Ofen im Zimmer, der mit Kohle geheizt wird. (...)

"Der zivilisatorische Rückstand der Dörfer ist sehr ernst. Man darf jedoch dabei nicht vergessen, dass dies das Resultat der Entwicklung von mehreren Jahrzehnten ist. Die Volksrepublik Polen hinterließ die Dörfer praktisch ohne jegliche kommunale Infrastruktur", sagt Jacek Szymanderski, ehemaliger Berater des Landwirtschaftsministers. (...) Seiner Meinung nach werden die polnischen Dörfer nicht imstande sein, allein diese Situation zu meistern: " Die ganze Bevölkerung sollte zustimmen, dass das durch die Wirtschaft verdiente Geld in größerem Maße in die Entwicklung der Dörfer angelegt wird. Dazu braucht man jedoch eine echte Solidarität der ganzen Bevölkerung", fügt Jacek Szymanderski hinzu.

Um überleben zu können, müssen auch Kinder aus den ärmsten Familien auf dem Feld arbeiten. So war es schon immer auf dem Lande, da dort die Feldarbeit als ein Teil der Erziehung angesehen wird. Es wäre auch nichts Schlimmes daran, aber die kinderreichen Familien können es sich nicht mehr leisten, ihre Kinder in die Schule zu schicken. In den neunziger Jahren war die weitere Ausbildung eines Kindes vom Dorf nach der Grundschule hauptsächlich von der Entfernung einer Schule zum Dorf abhängig und vom niedrigen Preis für das Internat

Es läßt sich jedoch nicht verbergen, dass in den letzten Jahren das Interesse an einer Ausbildung in den Dörfern immer mehr abnimmt: Noch in den achtziger Jahren studierte jedes vierzehnte Kind einer Bauernfamilie. In den neunziger Jahren war es jeder 130. oder 140.. Der Zugang zur Ausbildung wird noch zusätzlich dadurch erschwert, dass aufgrund des Geldmangels viele Dorfschulen und besonders die kleinen geschlossen wurden. Im Endeffekt verfügen lediglich 2,7 Prozent aller Dorfbewohner über ein abgeschlossenes Studium. In den Städten liegt die Zahl bei elf Prozent.

Andererseits kehren auch viele Absolventen der Universitäten und Hochschulen, die vom Lande und aus kinderreichen Familien stammen, nicht mehr in ihre Dörfer zurück. Es gibt dort einfach keine Arbeit für sie. (...)

In dem Bericht des UNPD wurde außerdem festgestellt, dass die Dorfbewohner Probleme nicht nur mit dem Zugang zu den Schulen haben, sondern auch - und zwar vielleicht sogar in größerem Maße - mit dem Zugang zu Ärzten. In der Zeit der Umstellung des politischen Systems, nachdem die Wirtschaftlichkeit eine immer größere Rolle spielte, wurden die Arztpraxen auf dem Lande unter die Lupe genommen. Im Endeffekt wurden zehn Prozent von ihnen geschlossen. Der Zugang zum Arzt und vor allem zum Facharzt ist auf dem Lande sehr beschränkt. Es reicht zu sagen, dass auf 10 000 Dorfbewohner statistisch 3,4 Allgemeinärzte und 1,8 Zahnärzte kommen. Vielleicht aus diesem Grunde sucht jeder vierte Landwirt keinen Arzt auf, und zwar auch dann nicht, wenn sein Gesundheitszustand dies erfordert. Es ist ihm entweder zu weit oder zu teuer.

Die Dorfbewohner kümmern sich allgemein nicht sonderlich um ihre Gesundheit: Nur jeder dritte Landwirt fuhr mindestens einmal in seinem Leben in Urlaub. Die Mehrheit der Dorfbewohner raucht (75 Prozent aller Männer), trinkt Alkohol (es wird geschätzt, dass ein männlicher Dorfbewohner ein Drittel mehr Wodka trinkt als ein Stadtbewohner), und ernährt sich schlecht.

Der Rückstand der polnischen Dörfer ist nicht nur im Vergleich mit den Städten sichtbar. Noch deutlicher wird der Kontrast, wenn man die polnischen Dörfer mit den Dörfern der Europäischen Union vergleicht (...)

Die Autoren des Berichtes betonen, dass die Steigerung des Lebensstandards auf dem Lande zu den wichtigsten Aufgaben Polens gehören sollte. Wenn dies nicht geschieht, könnte sich die Aufteilung Polens in Dörfer und Städte sehr negativ auf die Integration Polens in die Europäische Union auswirken. (Sta)