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Gute Köchin, aber schizophren

Patrick Tippelt10. Oktober 2005

Thailand, selbsterklärtes Paradies, kann für Behinderte und psychisch Kranke die soziale Hölle bedeuten. Aber selbst die schockierende Tat einer schizophrenen Frau öffnet keine Augen.

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Eine gute Schule mitten in Bangkok, das sollte es sein. An viel mehr aber erinnert sich Jitrlada Tantiwanitchasuk nicht. Nur wenige Minuten hielt sie sich am 9. September 2005 in der Sankt Joseph-Schule in der Nähe von Silom, dem Vergnügungsviertel Bangkoks, auf; tags darauf bewarb sie sich als Aushilfe in einem Restaurant. Dort wurde sie verhaftet, denn vier junge Schülerinnen lagen in einem Krankenhaus, angegriffen von Jitrlada mit Messern.

Einen Tag zuvor: Bilder, die mittlerweile aus der ganzen Welt bekant sind, aber bisher noch nie aus Thailand. Panische Eltern umarmen ihre Kinder, Ärzte versogen Menschen unter Schock, Polizisten schauen ratlos. Doch die psychisch kranke Jitrlada schockierte nicht nur Bangkok, sie erschütterte die gesamte Gesellschaft mit ihrer scheinbar willkürlichen Attacke auf die Mädchen.

Alptraum Rollstuhl

In Thailand trifft man nur selten auf Menschen in Rollstühlen; Blinde singen auf verstopften Bürgersteigen Almosen zusammen, ansonsten sind Behinderte unsichtbar. Auch klagen viele körperbehinderte Touristen, dass es in Thailand an behindertengerechten Infratrukturen fehlt. Der wunderliche Mix aus Buddhismus und vorherrschendem Aberglauben erklärt körperliche und geistige Behinderungen hinweg mit Karma, sei es das der Eltern oder des Menschen selbst. Da büβt jemand für Fehler in einem früheren Leben, so die Ansicht vieler Thais.

Ähnlich erklärt man psychisch Kranke. Es ist nicht so, dass sie ein Tabuthema sind; die Problematik wurde bisher einfach totgeschwiegen. Auch Zahlen, die einen aufmerksam werden lassen sollten, wurden nicht weiter beachtet. Einer Umfrage zufolge leiden über 80% aller Bangkoker unter Stress; ein Zehntel erwog schon mal Selbstmord. Rund 600.000 Thais – ein Prozent der Gesamtbevölkerung – gelten als manisch-depressiv. In Bangkok allein leben über 40.000 Patienten dauerhaft in psychiatrischen Kliniken.

Nun ist Jitrlada unter Dauerbewachung in einer Klinik, wo sie gewissenhaft von Psychiatern untersucht wird, die vergangene Woche Verhandlungsunfähigkeit attestierten; sie leidet unter paranoider Schizophrenie. Der Fall Jitrlada ist ein seltener, wenn auch nicht unbekannt in Thailand. Vor zwei Jahren attackierte ein 40-jähriger Mann einen Jungen. Er habe in dem Kind einen Teufel gesehen.

Ärgster Feind Familie

Was beide eint, ist die soziale Ächtung, die solch einer Tat folgt; nicht unbedingt die der Öffentlichkeit, sondern die familiäre. Schon Tage nach der Tat in der Schule wurde Jitrladas Leben in den Medien breitgetreten. Ihre Tante sagte, niemand in der Familie wäre überrascht gewesen, als sie von der Tat hörten; immerhin habe Jitrlada schon "mit 18 zuviel mit sich selbst geredet". Ein anderer Verwandter hätte sie nur ungern aufgenommen, aber sie sei eine "gute Köchin" gewesen. Aber auch er sei nicht von der Tat überrascht gewesen, schlieβlich habe die Familie Jitrlada schon 1990 in eine Klinik bringen müssen, weil sie "zu aggressiv" gewesen sei.

Psychotisches Thailand?

Die Tat in der Sankt Joseph-Schule lässt die Thais nach Schuldigen suchen. Die Gesellschaft sei schuld, so lautet einer der vorschnellen Erklärungsversuche. Das sexualisierende Fernsehen und die Verwestlichung des Landes führe zu einer Psychotisierung Thailands, fabulieren Sozialkritkiker. Psychiater entgegnen, dass es in Thailand immer schon psychisch Kranke gegeben habe, und dass die Mehrheit von ihnen den Alltag durchaus verkraften kann. Man solle versuchen, psychische Krankheiten als solche zu akzeptieren und Betroffenen zu helfen und beizustehen anstatt sie in Kliniken abzuschieben.

Psychiater wünschen sich eine Rehabilitierung von psychisch Kranken. Doch solange die Gesamtgesellschaft sich denen verschlieβt, die nicht ihren Normen entsprechen, wird es immer wieder zu solchen Taten kommen wie der von Jitrlada, die medial geschröpft werden, bevor die Kranken weggeschlossen werden. Und es werden weiterhin Behinderte zuhause versteckt werden – wie bisher.