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Halbzeit in Cannes

19. Mai 2010

Die Altmeister dominieren den 63. Cannes-Jahrgang. Viele etablierte Regisseure mischen mit im Rennen um die "Goldene Palme". Die Begeisterung bei den Kritikern hält sich in Grenzen. Dafür überzeugte ein alter Film.

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Oliber Stone mit Josh Brolin und Michael Douglas in Cannes 2010
Oliver Stone und seine StarsBild: AP

Der 63. Cannes-Jahrgang wird wahrscheinlich nicht in die Geschichte eingehen. Diesen Eindruck vermittelt zumindest das deutsche Presseecho zur Halbzeit der Festspiele. Die meisten Reaktionen rief noch der außer Konkurrenz laufende neue Oliver Stone-Filme "Wall Street: Money Never Sleeps" hervor. Insgesamt wird das Finanzdrama des Hollywood-Regieberserkers recht wohlwollend besprochen, kritisiert wird allerdings, dass der Film mit seinen kritischen Aussagen "doch nur hinter tausend Leitartikeln hinterher hinkt." ("Süddeutsche Zeitung")

Psychologisches Porträt aus England

Im Rennen um die "Goldene Palme" werden dem britischen Beitrag "Another Year" von Altmeister Mike Leigh nach dem ersten Wettbewerbsdrittel die besten Chancen eingeräumt. Der Film wirft gänzlich unspektakulär einen Blick auf ein verheiratetes Paar der Londoner Mittelschicht. Der gemeinsame Sohn, Freunde und Bekannte, Arbeitskollegen stoßen hinzu.

Zwei Frauen und ein junger Mann auf Gartenbank - Szene aus Another Year
Gepflegte Konversation - "Another Year" von Mike LeighBild: Diaphana distribution

Leigh beobachtet die Personen, sieht ihnen beim Alltag zu, das alles wird in langen Dialogen aufgelöst. Nach Meinung vieler Beobachter in Cannes geschieht das psychologisch höchst präzise und genau: "Es ist das erste Meisterwerk in diesem Jahr" jubelt die "Frankfurter Rundschau". " 'Another Year' funktioniert auch deswegen so famos, weil im Kino genau das ununterbrochen passiert: etwas ganz anderes zu erleben und empfinden, als was faktisch gerade mit uns passiert", meint "critic.de".

Drastische Gewalt aus Japan

Der neue Film des japanischen Meisterregisseurs Takeshi Kitano hat es dagegen bei vielen Kritikern schwer. Kitano erzählt in "Outrage" die brutalen Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Verbrecherbanden (Yakuza), die sich bis aufs Blut bekämpfen. Der Film setzt auf die drastische Ausmalung von Gewalt, ein Thema, dass Kitano immer schon interessiert hat: "Insgesamt ist der Film aber doch die beinahe komische Verzweiflungstat eines Mannes, der versucht, sich selbst um jeden Preis zu übertreffen", urteilte die "Süddeutsche Zeitung".

Javier Barde in Biutiful
Javier Bardem, Protagonist in Alejandro Gonzáles Inárritus Film "Biutiful"Bild: Festival de Cannes

Die Kritiker eher überzeugen konnte dagegen der neue Film des mexikanischen Regisseurs Alejandro Gonzáles Inárritu, der zu den wichtigsten Neuerern des Weltkinos gehört. Sein neues Opus "Biutiful" erzählt die Geschichte eines todkranken Kleinkriminellen in Barcelona, der versucht die Zukunft seiner Kinder zu sichern und den illegalen Einwanderern aus der Nachbarschaft zu helfen. In der Rolle des Gangsters mit Herz brilliert einmal mehr der spanische Schauspieler Javier Bardem. "Auch in 'Biutiful' spürt der Zuschauer den Schmerz des Protagonisten - allerdings auf eine bewegende, subtile und melancholische Art", urteilt die "deutsche presse agentur".

Wiederaufführung eines Meisterwerks

Neben dem Wettbewerb um die "Goldene Palme" überraschte das Festival an der Cote d'Azur in diesem Jahr mit vielen Dokumentationen und einer festlichen Wiederaufführung. Luchino Viscontis Literaturverfilmung "Il Gattopardo" ("Der Leopard") aus dem Jahre 1963 wurde in Cannes in einer frisch restaurierten Fassung gezeigt - initiiert vom amerikanischen Regisseur Martin Scorsese und seinem "Cinema Fund" und in Anwesenheit der Darsteller Claudia Cardinale und Alain Delon. Neben diesem grandiosen Meisterwerk wirkten die allermeisten Filme der anderen Programmsektionen in Cannes eher blass - so der einheitliche Tenor der Kritiker.

Polizeibeamte und ein Militär hinter einem Sicherheitszaun, an dem zahlreiche Dinge befestigt sind - Szene aus Draquila - L' Italia che trema
Aufräumarbeiten nach dem Beben - nicht immer im Sinne der Oper: "Draquila - L' Italia che trema"Bild: Wild bunch

Auch verschiedene Dokumentarfilme stießen auf ein positives Echo. Der Film der italienischen Regisseurin Sabina Guzzanti "Draquila - L' Italia Che Trema" über das Missmanagement der Regierung Berlusconi nach dem Erdbeben in Mittelitalien 2009 hatte schon im Vorfeld des Festivals für Aufsehen gesorgt. Der italienische Kulturminister hatte wegen der Aufführung des Films seinen Boykott der Festspiele angekündigt. "Draquila" ist eine überspitzte, pointierte Kritik an der Art und Weise, wie Silvio Berlusconi Politik inszeniert.

Blick auf Anselm Kiefer

Aufeinandergeschichtete Türme in Kunstlandschaft in Südfrankreich - Szene aus "Over Your Cities Grass Will Grow" (Filmfestival Cannes)
"Over Your Cities Grass Will Grow"Bild: Festival de Cannes

Ruhiger geht es in der Dokumentation "Over Your Cities Grass Will Grow" der Britin Sophie Fiennes zu. Die Schwester von Starschauspieler Joseph Fiennes beschäftigt sich in ihrem Film mit dem deutschen Künstler Anselm Kiefer. Fiennes beobachtet Kiefer bei der Arbeit, vor allem auf dem weitverzweigten, 35 Hektar großen Gelände in Südfrankreich, dass der Künstler im letzten Jahrzehnt zu einem Gesamtkunstwerk gestaltet hat. "Over Your Cities Grass Will Grow" lädt die Zuschauer ein zu einer faszinierenden Reise in die Welt eines Kreativen - im Kino. Für die Deutschen, die in diesem Jahr in den Programmreihen des Festivals nicht allzu präsent waren - im Palmenrennen ist diesmal kein deutscher Regisseur dabei - eine kleine Entschädigung.

Autor: Jochen Kürten
Redaktion: Conny Paul