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Chinas Walesa

25. Mai 2009

Die Protestbewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens begann als Studentendemonstration. Doch nach und nach schlossen sich ihr Chinesen aus allen Schichten an. Der Arbeiterführer Han Dongfang war einer von ihnen.

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Han DongfangBild: Shi Ming
Im Westen Pekings fielen bereits die ersten Schüsse, doch auf dem Platz des Himmlischen Friedens harrten noch immer führende Köpfe der Demokratiebewegung aus. Zu ihnen gehörte auch Han Dongfang. 25 Jahre alt war er damals und Elektriker bei der chinesischen Eisenbahn. Vor allem aber war er Mitgründer der ersten unabhängigen chinesischen Arbeiterorganisation. Bis heute erinnert sich Han genau an die Worte, mit denen sie ihn zum Gehen überredeten. China brauche einen Arbeiterführer wie ihn, erklärten sie ihm, einen chinesischen Lech Walesa, der wie der polnische Gewerkschafter in den achtziger Jahren dem Regime die Stirn bietet. "Heute Nacht wird hier auf dem Platz das Blut in Strömen fließen. Viele werden ihr Leben lassen", sagten sie ihm. "Aber du darfst nicht sterben. Du trägst eine wichtige Verantwortung."

Der "Staatsfeind Nr. 1"

China Bildgalerie Peking Tiananmen Jahrestag 4 Juni 1989
Auf ihrem Weg ins Zentrum traf die Armee auf WiderstandBild: AP

Han Dongfang floh vom Tian'anmen Patz. Die Flucht dauerte nicht lange. Unmittelbar nach der Niederschlagung der Protestbewegung wurde ganz China von einer Verhaftungswelle überzogen. Im Radio und im Fernsehen wurden lange Fahndungslisten verlesen. Es wurde zu Denunziationen aufgerufen. Eines Tages hörte Han am Ende einer solchen Liste, dass auch nach Arbeiterführern gesucht wurde. "Da dachte ich: jetzt ist es aus. Ich bin deren Sprecher. Ganz bestimmt stehe auch ich auf der Liste". Und tatsächlich: Der erste Name, der genannt wurde, war seiner. "Mein Kopf war plötzlich komplett leer gefegt. Ich wusste nicht mehr, wo vorne und hinten ist."

Der "chinesische Walesa" traf eine schwere Entscheidung. Han Dongfang stellte sich freiwillig der Polizei - ohne jedoch irgendwelche Verbrechen einzugestehen. Wenn Han sich daran erinnert, wie ihm die Staatsmacht mit allen erdenklichen Mitteln ein Geständnis abzutrotzen versuchte, klingt das wie aus einem Spionagethriller. "Insbesondere in der zweiten Nachthälfte, da konnte es passieren, dass du vier, fünfmal hintereinander zum Verhör rausgeholt wurdest. Kaum warst du ein wenig eingenickt, schon standest du wieder in einer kleinen Zelle vor einem gleißenden Scheinwerfer."

Im Blendlicht konnte Han seine Inquisitoren nicht erkennen. Das einzige, woran er sich erinnert ist, dass neben dem Scheinwerfer noch ein kleines rotes Lämpchen leuchtet. "In solchen Momenten dachte ich nur noch daran, mich einmal auszuschlafen. Ich habe mich gefragt: Warum bloß beiße ich mich hier fest? Ich sollte endlich gestehen, ich hätte Verbrechen begangen. Aber dann sagte ich zu mir selbst: Nur noch eine Minute. Diese eine Minute hältst du noch durch!"

Aus einer Minute wurden 22 Monate

China 1989 Platz des Himmlischen Friedens Tian'anmen-Platz Soldaten der Volkksbefreiungsarmee in Peking
Überall im Land wurde nach den Anführern gefahndetBild: picture-alliance / dpa

22 Monate blieb Han Dongfang in Haft – ohne jede Gerichtsverhandlung. Auf Druck vor allem aus Washington wurde er 1991 aus medizinischen Gründen in die USA abgeschoben. Seitdem wird Han Dongfang die Rückkehr in sein Heimatland verwehrt. 1993 gelang es ihm zwar, bei Hongkong die chinesische Grenze zu überwinden. Aber der Aufenthalt in der Heimat dauerte nicht lange. Nachmittags kam die Polizei in sein Zimmer und verlas einen offiziellen Bescheid. Han wurde zur persona non grata erklärt und des Landes verwiesen. Eine bizarre Szene. "Ich musste lachen", erinnert er sich. "Denkt ihr, ich bin ein Ausländer? Dann schaut doch in meinen Reisepass. Ich bin Bürger der Volksrepublik China. Wie könnt ihr einen chinesischen Bürger seiner Heimat verweisen?"

Neustart in Hongkong

Seit eineinhalb Jahrzehnten arbeitet der freie Gewerkschaftler nun in Hongkong. Hier hat er 1994 die Organisation "China Labor Bulletin" gegründet. Er gibt den chinesischen Arbeitern eine Stimme. Er berichtet über das Schicksal von Wanderarbeitern, über Protestaktionen wegen unbezahlter Löhne, prangert unmenschliche Arbeitsbedingungen an. Inzwischen übernimmt das "China Labour Bulletin" in Einzelfällen auch die juristische Vertretung von chinesischen Arbeitern. "Keine feurigen Reden mehr auf dem Platz des Himmlischen Friedens", bemerkt Han Dongfang und fügt hinzu, "statt dessen kleine, konkrete Schritte im Alltag."

Autor: Shi Ming

Redaktion: Mathias Bölinger