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Hauen und Stechen im Parlament

Bernd Riegert31. März 2004

Im Europäischen Parlament liegen die Nerven blank. Langsam kommt der Wahlkampf für die Europawahlen im Juni in Gange und da schießt ein "Netzbeschmutzer" richtig quer.

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Der parteilose Abgeordnete Hans-Peter Martin, ehemaliger Spiegel-Redakteur aus Österreich zieht so richtig vom Leder und schießt mit Hilfe der deutschen Boulevard-Kanone Bild auf seine Kollegen. Viele, so behauptet Martin auch auf seine Webseite, würden sich die Tagesgelder von 262 Euro auch für Arbeitstage genehmigen, an denen sie nicht an Sitzungen teilnehmen. Noch weiter ging der Stern. Er berichtete von gefälschten Unterschriften in den Anwesendheitslisten des Parlaments.

Verrat, Rufmord, Mobbing jammerten die deutschen Abgeordneten, einträchtig über alle Parteigrenzen hinweg - was selten vorkommt. Die Geschäftordnung des Parlaments sehe, so rechtfertigte sich die spontane Große Koalition, durchaus die Praxis vor, Tagegelder zu kassieren, auch wenn man nicht an Sitzungen teilnehme, sondern sein Mandat irgendwie anderweitig ausübe. Freitage seien generell Arbeitstage, wenn man Donnerstag im Parlament gewesen sei. Das heißt Geld gibt es für Freitag auch, wenn der Abgeordnete gar nicht da ist. Im Laufe der Jahre hat sich eine sehr interessante Geschäftordnungspraxis herausgebildet. In der Tat.

Salz in die Wunde

Auch an der mehrmals vorgekommenen Praxis Familienmitglieder im Wahlkreis als Bürokräfte anzustellen und so Aufwandsentschädigungen in die Familienkasse einzuspeisen, hat das Parlament offiziell nie Anstoß genommen. Hans-Peter Martin, den die Sozialisten übrigens wegen seiner als störend empfundenen Nörgelei kurzerhand aus der Fraktion warfen, reibt gleich kiloweise Salz in eine offene Wunde des Parlaments. Das tut weh.

Dass die Spesen- und Reisekostenerstattung ein Skandal ist, gibt auch Willy Rothley (SPD) offen zu. Sein wiederholter Versuch, eine einheitliche Diätenregelung für die Abgeordneten per Statut regeln zu lassen und dafür die wuchernden Spesen zu beschneiden, ist im Januar erneut gescheitert. Da rümpften die zuständigen Außenminister die Nase und sagten Nein, auch nachdem die Bild-Zeitung damals Trommelfeuer geschossen hatte. Bundeskanzler Gerhard Schröder selbst versenkte das Abgeordneten-Statut. SPD-Parteifreund Willy Rothley witterte Verrat an seinem Lebenswerk und erklärte seinen Austritt aus der Fraktion.

Ramponiertes Ansehen

Nach den neuerlichen Attacken für die Abgeordneten und ihre Einkünfte will sich jetzt auch der aalglatte und äußerst medienbewusste Parlamentspräsident Pat Cox einschalten. Der ehemalige Fernsehmoderator aus Irland will von Hans-Peter Martin Beweise sehen. Die Parlamentsverwaltung soll ermitteln. Brüssler Korrespondenten erhalten derweil von frustrierten Abgeordneten der Sozialistischen Fraktion per E-mail konspirativ anmutende Enthüllungen über das wahren Leben und die sinistren Absichten des Hans-Peter Martin.

Inzwischen herrscht das nackte Misstrauen auf den ausladenden Gängen des Parlaments in Brüssel und Straßburg. Die Zeit für eine gründliche Selbstreinigung vor den Europawahlen wird knapp. Das in Deutschland ohnehin bescheidene Ansehen der Europa-Parlamentarier könnte weiter ramponiert werden, die Wahlbeteiligung in den Keller gehen.

Die Aufregung über angebliche Selbstbedienung im Parlament ist vor allem ein deutsches Phänomen, meint der griechische Abgeordnete Dimitris Tsatsos. Ihm seien klare Regeln auch lieber, aber irgendwie müsse man ja überleben und die Reisen zwischen Brüssel und der Heimat finanzieren. Er hat sich seine eigene Verschwörungstheorie zurecht gelegt. Dass da jetzt so kurz vor den Wahlen schmutzige Wäsche vorgezeigt wird, sei ein Streich dunkler Kräfte, die den Sozialisten und dem Parlament und Europa schaden wollten.