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Hauptsache neu

Oliver Schilling5. März 2003

Bei den Parlamentswahlen in Estland hat die neue Partei Res Publica überraschend 28 der 101 Mandate errungen – ebenso viele wie die bisher regierende linksliberale Zentrumspartei. Oliver Schilling kommentiert.

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Von Null auf eins – damit ein Titel in den Pop-Charts nach oben kommt, muss Inhalt und Verpackung stimmen. Man sollte annehmen, dass das in der Politik nicht anders ist und dass Wähler die Partei bevorzugen, die inhaltlich überzeugt und diesen Inhalt gut verkauft. Doch manchmal passiert das Gegenteil: Wähler machen ihr Kreuz gerade bei der Partei, die sie am wenigsten kennen.

So geschehen am vergangenen Wochenende in Estland. Die neu gegründete Partei Res Publica ist zum ersten Mal in Estland bei einer Parlamentswahl angetreten und teilt sich mit der linksliberalen Zentrumspartei den ersten Platz. Mit einem Koalitionspartner an der Hand könnte Res Publica gar Regierungspartei werden. Res Publica ist nicht der erste vergleichbare Vorgang im Baltikum: Im Nachbarland Lettland war beispielsweise im vergangenen Herbst ebenfalls eine bis dahin unbekannte Partei mit dem nicht gerade einfallsreichen Namen "Neue Zeit" an die Macht gekommen.

Was Res Publica genau will und wofür die Partei steht, ist nicht klar. Bisher stand die Partei nicht auf der politischen Bühne und konnte sich nicht profilieren. Hinzu kommt, dass das Wahlprogramm der Partei vage und kaum aussagekräftig ist. Mehr Ordnung und Rechtsstaatlichkeit schrieben sich die Res Publicaner auf die Fahnen. Das ist weder neu noch einfallsreich. Die Parteistrategen wollten sich nicht festlegen. Sie buhlen um rechtskonservative Wähler in der politischen Mitte, wollen es dabei möglichst vielen Recht machen und keine Wähler mit klaren politischen Positionen vergraulen.

Res Publicas Aushängeschild ist der Parteivorsitzende und mögliche neue Ministerpräsident Juhan Parts. Er hat sich als oberster Rechnungsprüfer des Landes den Ruf eines Saubermannes erworben und gilt als Garant gegen Korruption und Misswirtschaft. Parts selbst ist allerdings ein Bürokrat, der keine politische Erfahrung und keine politischen Visionen hat.

Er wolle Dinge besser machen, sich für eine neue politische Kultur einsetzen, betonte er im Januar bei Gesprächen mit deutschen Journalisten. Was der Inhalt dieser Kultur sei und was "Bessermachen" genau bedeutet, vermochte er nicht zu erklären. Den Esten ist Parts aus dem Fernsehen bekannt. Vor dem Parlament hat er gut vorbereitete Reden verlesen, stets den Zeigefinger gegen vermeintliche Geldverschwender erhoben. Politische Schlagfertigkeit und Verhandlungsstärke hat er aber nicht. Ebenso wenig kann Parts frei sprechen.

Doch die Frage bleibt: Warum setzen Estlands Wähler massenweise auf einen politischen Seiteneinsteiger? Warum schenkt der Wähler ihm Vertrauen, investiert seine Stimme und sein politisches Vertrauen in unerprobte Politiker? Die Enttäuschung über die Politik der etablierten Parteien und allgemeine Politikverdrossenheit mögen Gründe für ein solches Wahlverhalten sein. Ebenso Korruptionsskandale um die Privatisierung alter Staatsunternehmen, das abflauende Wirtschaftswachstum sowie die Angst breiter Bevölkerungsteile vor einem möglichen EU-Beitritt. Aber der Flirt mit dem unbekannten Neuen birgt Risiken für Estland. Schließlich ist es bei der Musik nicht anders: Bevor man sich eine CD eines unbekannten Interpreten kauft, hört man in der Regel ja auch kurz hinein.