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Herta Müller erhält Würth-Preis für Europäische Literatur

2. März 2006

Die rumäniendeutsche Schriftstellerin Herta Müller hat am 23. Februar in Stuttgart den Würth-Preis für Europäische Literatur bekommen. Die mit 25.000 Euro dotierte Auszeichung wird alle zwei Jahre verliehen.

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Herta Müller lebt seit 1987 in BerlinBild: dpa

"Was ich schreibe, muss ich essen. Was ich nicht schreibe, frisst mich", erklärte Herta Müller bei der Preisverleihung des diesjährigen Würth-Preises für Europäische Literatur. Beim Schreiben müsse sie sich dort aufhalten, wo sie am meisten verletzt worden sei, sagt sie, sonst hätte die Literatur gar keinen Sinn. Dieser Weg führt die seit 1987 in Berlin lebende rumäniendeutsche Schriftstellerin immer wieder zurück in die kommunistische Vergangenheit Rumäniens. Weil die Autorin sich geweigert hatte, mit dem Geheimdienst Securitate zusammenzuarbeiten, verlor sie ihre Stelle als Übersetzerin und Deutschlehrerin und wurde 1984 mit einem Arbeits- und Publikationsverbot belegt. Dazu kamen endlose Verhöre beim Geheimdienst und der Terror der ständigen Überwachung.

Geprägt vom Grauen des Kommunismus

Als wären sie literarische Außenstellen der Ausländerbehörden, fordern viele deutsche Kritiker, dass sich Herta Müller auch thematisch in ihre neue Heimat integrieren sollte und warten auf ihren ersten Roman über die Probleme des heutigen Deutschland. Literaturkritiker sind nicht die einzigen, die das Grauen des Kommunismus schnell als "Schnee von gestern" abstempeln: auch nach ihrer Auswanderung nach Deutschland im Jahr 1987 zeigten deutsche Beamte wenig Verständnis für die Vergangenheit der Autorin, deren Leben sich jahrelang im Spannungsfeld zwischen Verhören, Todesdrohungen und Hausdurchsuchungen des Geheimdienstes abgespielt hatte. Herta Müller: "Hatten Sie mit dem dortigen Geheimdienst zu tun?" fragte er. "Er mit mir – das ist ein Unterschied", sagte ich. Es was empörend. Der Prüfer B prüfte dann: "Wollten Sie die Regierung stürzen? Nun könnten Sie es doch zugeben, es ist doch jetzt Schnee von gestern." Ich ertrug nicht, wie hier ein Prüfer mein Leben mit einer Redensart abtut".

Für Herta Müller kommt die gleichgültige und arrogante Metapher des "Schnees von gestern" nicht in Frage. Schon 1945 fiel die Mutter der Schriftstellerin dem verräterischen Schnee zum Opfer. Sie hatte sich in einem Erdloch im Nachbargarten versteckt, um der Deportation in die Sowjetunion zu entgehen. Wegen des hohen Schnees konnte sie aber niemand mit Nahrung und Wasser versorgen, ohne Spuren zu hinterlassen. Sie wurde gefasst und deportiert.

Auch als die Autorin 1987 in einer Februarnacht Rumänien verließ, schneite es heftig. Als sie in den Zug stieg, rief ihr ein Polizist aus dem Schneegestöber zu: "Wir kriegen dich noch, egal wohin du fliehst!" Die Tentakel der rumänischen Geheimpolizei reichten bis nach Berlin, wo die Autorin noch Jahre später Drohbriefe bekam – von "Schnee von gestern" keine Spur.

Keine schützende sprachliche Heimat

Auch die rumänische Sprache ist für Herta Müller immer noch präsent. In ihrem 2003 erschienen Essayband "Der König verneigt sich und tötet" betont sie, dass das Rumänische immer mitschreibe, da in jeder Sprache andere Augen sitzen und die Sicht des Rumänischen zu neuen Metaphern und unerwarteten Perspektiven auf die deutsche Sprache führe. Trotzdem taugt weder das Deutsche, noch das Rumänische als schützende sprachliche Heimat. Wie der spanische Autor Jorge Semprun betont auch Herta Müller, dass nicht eine Sprache die Heimat ist, sondern nur dass, was gesprochen wird.

Zusammenspiel der Welten

Die Jury des diesjährigen Würth-Preises lobte das Zusammenspiel der deutschen und rumänischen Vorstellungswelten im Werk Herta Müllers, und ihre "scherenscharfe Prosa, mal lakonisch-knapp, mal lyrisch-surreal, in der sie seit über 20 Jahren eine fortlaufende Chronik des Grauens und der Gewalt schreibt". Der Tübinger Germanist Jürgen Wertheimer, ein Mitglied der Jury, beschreibt Herta Müllers Werk mit folgenden Worten: "Es gibt Tage, an denen sollte man Herta Müller nicht lesen, denn kaum jemand kann so tröstungsfrei, so hoffnungslos wie sie über die Sachen der Welt schreiben, auf den ersten Blick ohne eine Spur von Sinngebung, bergender Perspektive oder mythischer Verhüllung, auch ohne anschmiegsame Adjektive und ohne heimelige Bilder. Doch an den allermeisten Tagen, an unseren guten Tagen, macht es, ich wage zu sagen, Spaß, Herta Müller zu lesen, weil man zu spüren bekommt, wie eingerostet und festgefressen die eigene Wahrnehmung geworden ist, weil man genauer hinzuschauen lernt und die immense Wichtigkeit von Details – vielleicht zum ersten Mal – fassen kann."

Diese Details erinnern daran, dass das Grauen niemals zum Schnee von gestern abgetan werden kann. Am wenigsten dann, wenn die Blutstropfen noch nicht getrocknet sind.

Dana Alexandra Sora
DW-RADIO/Rumänisch, 26.02.2006, Fokus Ost-Südost