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Heureka, eine Verfassung!

Alexander Kudascheff, Brüssel18. Juni 2003

105 Männer und Frauen aus 27 Ländern, darunter Außenminister, Abgeordnete, Gesandte und Professoren haben sich nach sechzehn Monaten auf eine „europäische Verfassung“ geeinigt, die gar keine Verfassung sein darf.

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Unter dem präsidialen Vorsitz des ehemaligen französischen Staatspräsidenten und diesjährigen Karlspreisträger Valery Giscard d'Estaing kam das 462 Artikel umfassende Werk zustande. Darunter auch die Charta der Grundrechte, die die europäische Verfassung ausmachen, oder genauer: den europäischen Verfassungsvertrag. Denn: da es kein europäisches Staatsvolk gibt, kann es auch keinen Verfassung geben, sondern eben nur einen Verfassungsvertrag zwischen den Nationalstaaten, die der europäischen Union angehören.

Doch ganz unter der Hand hat sich für diesen Verfassungsvertrag fast wie selbstverständlich – auch in der europafeindlichen britischen Presse - der Begriff "Verfassung" herausgebildet. So wird der Verfassungsvertrag zur Verfassung, obwohl er keine sein kann. Und er beweist vor allem eins: Europa wollte eine Verfassung. Wenn also die Staats- und Regierungschefs in den nächsten Monaten den Entwurf nicht zerreden, zerlegen, auseinandernehmen oder sonstwie kaputtmachen, dann bekommt Europa auch seine langersehnte Verfassung.

Kompromiss zwischen den Extremen

Eine gute? Zumindest keine schlechte. Denn der Verfassungsentwurf musste ein Kompromiss sein, anders wäre er nicht möglich gewesen. Ein Kompromiss zwischen den europäischen Visionären, die am liebsten nur noch Europa wollten und den Europaskeptikern und -zweiflern, die so wenig Europa wie möglich wünschten, ein Kompromiss zwischen den kleinen und den großen Ländern, den Alten und den Neuen, den Konservativen und denen, die sich fortschrittlich nennen, sowie auch ein Kompromiss zwischen laizistisch geprägten und tief religiösen Staaten - wie beispielsweise Frankreich auf der einen und Polen auf der anderen Seite.

Unterschiedlichste Vorstellungen mussten folglich in einen Text gepresst werden, der einerseits die europäische Machtstruktur lesbarer, verständlicher machen sollt und andererseits Europa effizienter, ohne dass die Nationalstaaten nichts mehr zu sagen hätten. Und dazwischen gab es immer wieder den berechtigten deutschen Ruf nach "Subsidiarität". Das heißt, Europa sollte nicht mehr regeln als nötig, was in Madrid und London genauso gesehen wurde.

Mehr Demokratie für Europa

Nicht zuletzt sollte Europa demokratischer und die Macht des Parlaments gestärkt werden. Das Ergebnis kann sich durchaus sehen lassen: das Europaparlament hat mehr Befugnisse als bisher. Allerdings darf es immer noch nicht über die Milliarden für die europäische Landwirtschaft abstimmen. Die Kommission ist unterdessen gestärkt, weil sie mehr darf als vorher. zugleich wird sie effektiver, weil sie verkleinert wird. Demnächst werden nur noch 15 Kommissare in Brüssel das Sagen haben. Das Prinzip, nach dem jedes Land einen Kommissar stellt, wird abgeschafft.

Die Kommission wird damit schlagkräftiger, vielleicht aber auch unwichtiger, wenn die Länder ihre Interessen nicht mehr in Brüssel, sondern auf den Räten durchsetzen werden. Der halbjährliche Wanderzirkus wiederum, die rotierenden Ratspräsidentschaften - sie werden abgeschafft. Ein Ratspräsident, vielleicht auch nur ein Vorsitzender, ein chairman, wird das Sagen haben - und Europas Kontinuität für zweieinhalb Jahre (mit möglicher Widerwahl) repräsentieren. Ob das etwas bringt, weiß allerdings niemand, vor allem wenn der Präsident mit schwachen Kompetenzen ausgestattet sein sollte.

Neuer starker Mann

Zudem wird es einen neuen starken Mann in Europa geben: Den europäischen Außenminister, der dem Rat und der Kommission zugeordnet ist. Er soll Europas Außenpolitik ein Gesicht und inhaltliches Profil geben. Schön gedacht. Doch da in der Außenpolitik mehr oder weniger Konsens herrscht, wird er ein wandelnder Vermittlungsausschuss sein - bevor er eine Position vertreten kann. So wie etwa jetzt bereits Solana, Europas Chefdiplomat. Seine Schwäche ist die Schwäche seines Amts, das ihm keinen Platz für einen eigenständiges europäisches Profil in der Außenpolitik gibt.

Dabei ist zu befürchten, dass es nicht besser wird, bloß weil man sich einen Kurswechsel vorgenommen hat. Die Wahrheit ist: Europa ist in der Außenpolitik zerstritten - siehe Irak - und kein Amt kann den mangelnden Konsens ersetzen. Trotzdem: der Verfassungsentwurf bietet eine Chance für mehr Europa. Er bietet eine Chance für ein bürgernäheres, ein demokratisches Europa. Und er bietet eine Chance für ein durchsetzungsfähiges Europa - wenn die Europäer wollen.