1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

"Heute Kritik, morgen Denkmäler für mich"

11. Juni 2004

- Friedensnobelpreisträger Walesa wartet auf ein politisches Comeback in Polen

https://p.dw.com/p/5Ama

Berlin, 11.6.2004, DW-RADIO, Nina Werkhäuser

Sein Name ist untrennbar mit dem Widerstand polnischer Gewerkschafter gegen das kommunistische Regime verknüpft, in den vergangenen Jahren aber ist es um Lech Walesa ruhig geworden. 1983 für sein Engagement mit dem Friedensnobelpreis geehrt, stand der Begründer der polnischen Solidarnosc-Bewegung in den neunziger Jahren als Staatspräsident an der Spitze Polens. Und dahin drängt es ihn auch wieder, denn für Walesa ist schon jetzt klar, dass er bei der nächsten Wahl wieder kandidieren will. Nina Werkhäuser hat den Politiker in Danzig getroffen:

Lech Walesa arbeitet am Computer, eine seiner Lieblingsbeschäftigungen. Wenn Gäste in sein Danziger Büro kommen, bleibt er erst einmal ungerührt vor dem Bildschirm sitzen, so als wollte er sagen: Eigentlich habe ich Wichtigeres zu tun. Wie viel Zeit er für das Interview hat? Je nach Laune 15 Minuten oder eine Stunde, sagen seine Mitarbeiter. Diese Unberechenbarkeit ist charakteristisch für den früheren Arbeiterführer und ehemaligen Präsidenten Polens. Hinzu kommt das immense Selbstbewusstsein des 60jährigen Friedensnobelpreisträgers. Es ist gespeist aus dem Bewusstsein, dass ohne ihn Polen, Europa, ja vielleicht so gar die ganze Welt anders aussähe:

"Ich gehöre zu denen, die die heutige Situation herbeigeführt haben. Der Gewinn ist unbestritten. Aber heute befinden wir uns in einer neuen Epoche, und ich versuche, Einfluss darauf zu nehmen. Als Revolutionär bin ich fest davon überzeugt, dass das heutige wirtschaftliche System für das 21. Jahrhundert nicht mehr geeignet ist. Auch die Demokratie funktioniert nicht mehr richtig. Also müssen wir diese Systeme überarbeiten."

So spricht Walesa: Mit Vorliebe bezeichnet er sich selbst als großen Revolutionär, der mit seinen eigenen Arbeiterhänden und mit Hilfe des Papstes den Kommunismus erst in Polen, dann in ganz Osteuropa abgeschafft hat. Da allerdings niemand seine historische Rolle in Frage stellt, wirkt ihre ständige Betonung schnell aufdringlich. 50 Prozent der Leistung gebührten dem Papst, 30 Prozent ihm, pflegt der Elektriker Walesa zu sagen. Den Rest teilt er großzügig unter Kohl und Reagan auf, die Hauptsache ist, dass der Russe Gorbatschow nichts abbekommt. "Gorbatschow hatte damals keinen Durchblick", meint Walesa, der sich heute selbst um Durchblick in einer komplexer werdenden Welt bemüht. Die Methoden des Arbeitskampfes hält der frühere Chef der Gewerkschaft Solidarnosc im 21. Jahrhundert jedenfalls für überholt:

"Im 20. Jahrhundert war die Welt geteilt und voller Verbote. Da war es normal, dass die Menschen demonstriert und mit Steinen geworfen haben. Das 21. Jahrhundert ist eine ganz andere Epoche. Es ist das Zeitalter des Intellekts, der Information, der Globalisierung. Jeder von uns hat das Recht, Präsident zu werden oder Parlamentarier. Es ist also nicht mehr angebracht, mit Steinen zu werfen. Deshalb gehe ich nicht mehr auf die Straße - höchstens, um zu zeigen, wie zufrieden ich bin."

Übermäßig zufrieden wirkt Privatmann Walesa allerdings nicht, so lange er keinen echten politischen Einfluss hat. Als Staatspräsident hat er zwischen 1990 bis 1995 das immense Vertrauen und die hohe moralische Glaubwürdigkeit verspielt, die er im Land genoss. Sein autoritärer Stil und sein Hang zur Selbstherrlichkeit ließen die Zustimmung schnell schwinden. In vielen Situationen zeigte sich, dass der gewiefte und durchsetzungsfähige Gewerkschaftsführer, der mit 16 die Schule verlassen hatte, für das höchste Staatsamt wenig geeignet war. 1995 musste er seinen Posten dem heutigen Präsidenten Aleksander Kwasniewski überlassen, trat im Jahr 2000 aber wieder gegen ihn an und bekam nur peinliche 1% der Stimmen. Für Walesa trotzdem kein Grund, aufzugeben:

"Ich werde wieder versuchen zu kandidieren. Wenn im nächsten Jahr ein neuer Präsident gewählt wird, wird Polen wahrscheinlich die EU wieder verlassen wollen. Wir werden sehr unzufrieden mit der EU sein, und dagegen werde ich angehen. Ich werde nicht erlauben, dass Polen die EU wieder verlässt. Mit meinen Argumenten werde ich siegen, aber die Wahl wohl trotzdem verlieren."

So hält der strenggläubige Katholik und Vater von acht Kindern heute Vorträge, vor allem im Ausland, wobei er seine Zuhörer gerne provoziert und mitunter auch verwirrt. Er redet vom "Zeitalter der Kontinentalisierung", plädiert für "globales Denken" und mischt Geschichte und Zukunftsvisionen zu einem schwer durchschaubaren Weltbild zusammen. Nicht nur Selbstlob, sondern auch Schuldzuweisungen haben in seinem Rede-Feuerwerk einen festen Platz, zum Beispiel beim Thema Irak-Krieg:

"Nicht die USA, sondern die EU hat Schuld am Irak-Krieg, vor allem Deutschland und Frankreich. Sie haben es versäumt, ein Treffen zwischen den alten und den neuen Mitgliedsstaaten zu organisieren. So eine wichtige Organisation wie die EU hätte in dieser Frage unbedingt eine einheitliche Meinung haben müssen, egal, welche. Diese Meinung hätten die USA dann nicht ignorieren können. Aber so war es nicht, und deswegen haben wir jetzt Krieg."

Walesa teilt gerne aus, deshalb muss er auch viel einstecken. Man nimmt es ihm nicht ganz ab, dass ihn das angeblich nicht stört:

"Je mehr ich heute auf den Deckel bekomme, desto mehr Denkmäler werden morgen für mich gebaut."

Zur Zeit ist Walesa aber noch nicht so sehr Denkmal, dass nicht immer wieder eine kumpelhafte Herzlichkeit bei ihm durchblitzt. "Mein Charakter ist kompliziert, und ich weiß nicht, ob ich Recht habe", sagt er am Ende des Interviews schlitzohrig. "Wenn es schlecht ist, streichen Sie es einfach, dann haben Sie eben eine Stunde Zeit verschwendet." Immerhin - eine Stunde und nicht nur 15 Minuten. (TS)