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"Heute sind wir alle Hokies"

Jonathan Schulenburg20. April 2007

Desinteresse, Trauer, Wut und eine Internetplattform des Beileids: Ein US-Student registriert die teilweise überraschenden Reaktionen seiner Kommilitonen auf den schlimmsten Amoklauf in der Geschichte Amerikas.

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Bild: DW

Montag, 16. April. Mittagszeit. Ich gehe zu meinen Zimmernachbarn, um neueste Informationen über die Schießerei in Virginia zu erfahren. Fernseher anmachen, CNN oder einen anderen Nachrichtenkanal einschalten. "Was ist los", fragen sie mich. "Wie, ihr habt noch nichts gehört?", entgegne ich. "Seht selbst!" Sie sahen es. Es lief auf jedem Sender. Über 20 Tote bei einer Schießerei auf dem Campus der Technischen Universität Virginia in Blacksburg. Die Zahl der Toten sollte sich im Laufe des Tages noch erhöhen.

Ich war ein wenig überrascht von der Reaktion meiner Zimmernachbarn. Beide schienen, als ob es sie nicht weiter kümmere. Der eine widmete sich wieder seiner Seminararbeit und der andere legte gar einen Spielfilm ein. Das Desinteresse setzte sich erst einmal fort. Sowohl bei meinen Kommilitonen als auch bei unserer Gastrednerin. Es war Helen Thomas, eine langjährige Korrespondentin im Weißen Haus. Doch sie erwähnte den Amoklauf mit keinem Wort, sprach nur über die Zeit im Weißen Haus und ihre tiefe Missachtung gegenüber George W. Bush.

"In Blacksburg passiert nie etwas"

Erst am Abend und am nächsten Morgen änderten sich die Reaktionen. Der nächste Tag begann mit einer Diskussion in unserer Klasse: Anteilnahme, Entsetzen, Verwunderung und Trauer waren in den Beiträgen zu spüren. Jeder hatte die Berichterstattung verfolgt. Die Studenten aus Virginia meinten nur: "Blacksburg ist ein kleines beschauliches Städtchen. Da passiert nie etwas. Es ist langweilig dort."

Doch das langweilige Städtchen ist jetzt einer hungrigen Journalisten-Meute ausgesetzt. Auch darüber sprachen wir: die Berichterstattung - natürlich nur in den amerikanischen Medien. Kritik war zu hören. "Es werden immer Schuldige gesucht", hieß es. "Es gibt nichts Neues mehr zu berichten, die Fakten sind auf dem Tisch." Und auch Resignation war festzustellen. "Ich kann keine Nachrichten mehr sehen. Es wiederholt sich alles."

Neue Formen der Trauer im Internet

Nichtsdestotrotz ist die Anteilnahme an Universitäten und unter Studenten landesweit nach wie vor sehr groß. Sehr deutlich wird das im Internet. Viele Studenten, die bei dem Internet-Studentennetzwerk "Facebook" registriert sind, bekunden ihr Beileid und ihre Solidarität. Das Emblem der Technischen Universität Virginia prangt jetzt anstatt ihres Fotos auf ihrem Profil. Eine Unterzeile sagt: "Heute sind wir alle Hokies." Ein Verweis auf das Maskottchen der Schule.

Zudem bilden sich immer neue Gruppen in dem Studentennetzwerk, um eine Plattform des Beileids zu errichten. Die größte trägt das Datum, den 16.04.07, als Namen und hat schon über 13.000 Mitglieder. Die Zahl wächst stündlich. Studenten schreiben in ihren Nachrichten Beileidsbekundungen und rufen an ihren Universitäten zu Trauerfeiern und symbolischen Akten auf.

Kritik an laxen Waffengesetzen

Doch natürlich werden auch an den Universitäten die Stimmen lauter, die nach strikteren Waffengesetzen rufen. In unserer Klasse aber war es ein Europäer, der die Amerikaner daran erinnern musste, dass 200 Millionen Waffen in Amerika im Umlauf sind. Es sind nicht nur die Massen an Waffen, sondern vor allem der leichte Zugang zu ihnen. Unsere anschließende Diskussion zeigte aber deutlich, dass kaum einer die laxen Waffengesetzte für richtig hält.

Auch der nächste Gastredner, ein privater Ermittler, der jahrelang für die Polizei, das FBI und die Drogenbehörde gearbeitet hat, würde den Gebrauch von Waffen lieber gestern als heute beschränken. "Ich habe 30 Jahre lang miterlebt, was Waffen anrichten. Wir haben in diesem Land zu viele davon." Er weiß aber auch um die Schwierigkeit eines solchen Vorhabens: "Die NRA wird das Verbot von Waffen nie zulassen."

Makaber wirkt die Erklärung der mächtigen Waffenlobby NRA: Der Amoklauf hätte verhindert werden können, wenn es den Studenten erlaubt gewesen wäre, auf dem Campus Waffen zu tragen. Schließlich hätte ein Professor oder ein Student den Amokläufer gewaltsam aufhalten können. Doch führen mehr Waffen wirklich zu weniger Gewalt?