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"IS-Miliz will politische Macht"

Arnd Riekmann16. November 2014

Medienberichten zufolge hat die IS-Terrormiliz inzwischen "staatliche" Strukturen entwickelt. Das sei nicht ungewöhnlich für eine solche Organisation, sagt der Politikwissenschaftler Jochen Hippler im DW-Interview.

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IS-Kämpfer - Foto: Medyan Dairieh (Zumapress)
Bild: picture alliance/ZUMA Press/M. Dairieh

DW: Nach Recherchen von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung gibt es innerhalb der IS-Miliz eine Krankenversicherung, Heiratsbeihilfen und Unterstützungszahlungen für Familien von Kämpfern, die getötet oder inhaftiert wurden. Außerdem sollen Personalakten über Selbstmordattentäter existieren. Kann man in diesem Fall schon von einem Staat sprechen?

Jochen Hippler: Technisch gesprochen nicht, weil Staaten als wichtiges Definitionskriterium die Anerkennung durch andere Staaten brauchen, und das ist bisher nicht passiert. Im strengen juristischen Sinne kann man also noch nicht von einem Staat sprechen. Aber man kann sagen, dass sich die Organisation schon seit längerem bemüht, staatsähnliche Strukturen auszubilden. Es gibt neben den Aspekten, die Sie erwähnt haben, auch noch Steuererhebungen und Streitkräfte. Das alles erweckt tatsächlich den Eindruck, dass der IS sich in eine solche Richtung orientiert.

Kann man aber nicht das Gleiche über die Mafia sagen?

Der Unterschied ist offensichtlich: Die Mafia kontrolliert keine größeren zusammenhängenden Gebiete. Aber die IS-Miliz hat im Irak und in Syrien inzwischen eine solche Bedeutung, dass ihr geografischer Einflussbereich zum Teil größer ist als der von der syrischen Regierung. Das ist der Unterschied zur Mafia, die im Hintergrund in bestimmten Teilen eines Landes kriminelle Aktivitäten entwickelt, aber nicht in der Lage ist, sich gegen eine Regierung festzusetzen und zu herrschen. Aber dieser "Islamische Staat" hat Gerichtshöfe, enorme Steuererhebung und eine sehr straffe Personalführung, er hat ein organisiertes Militär samt Panzern und Artillerie - das alles sind Dinge, die die Mafia nicht hat.

Sie sagen, dass die Anerkennung durch andere Staaten ein wichtiges Kriterium bei der Staatlichkeit ist. Ist denn zu beobachten, dass der IS dies anstrebt? Dass er also Kontakte zu Regimen knüpft, die vielleicht bereit wären, ihn als Staat anzuerkennen?

Das kann man bisher nicht erkennen, und das ist in gewissem Sinne auch gegen die Idee dieses "Islamischen Staates". Die Organisation hat ja mehrmals den Namen gewechselt. Früher war es der "Islamische Staat im Irak", dann der "Islamische Staat im Irak und in Syrien", jetzt heißt er nur noch der "Islamische Staat" - mit dem Anspruch, dass er sozusagen der Staat für alle Muslime ist. Das heißt, in gewissem Sinne befindet sich diese Miliz in Konkurrenz zu allen anderen Staaten, eben auch zu Saudi-Arabien, Syrien, dem Irak. IS will an die Stelle aller anderen islamischen Staaten treten, um den einen zu gründen, der in der Nachfolge des Propheten Mohammed steht - was völlig absurd und überzogen ist. Das bedeutet aber natürlich, dass sich dieser Staat als übergeordnet zu den anderen Staaten empfindet und nicht nur als einer von vielen. In der Realität ist es natürlich anders, aber ideologisch verkaufen die sich im Moment so.

Jochen Hippler - Foto: Privat
Politikwissenschaftler Jochen HipplerBild: privat

Wenn sich staatliche Strukturen im Machtbereich des IS entwickeln: Was heißt das für den Konflikt im Nordirak und in Syrien?

Zuerst müssen wir festhalten, dass diese Herausbildung von staatlichen Verhaltensweisen oder Institutionen nicht so ungewöhnlich ist, wie man vielleicht denken könnte. Wir haben das auch bei anderen Organisationen - denken Sie an die pakistanischen Taliban, die sich ebenfalls bemüht haben, in manchen Landesteilen ein Rechtswesen, ein Steuerwesen und andere Strukturen einzuführen. In gewissem Sinne streben die Aufstandsbewegungen häufig eine solche Gegenstaatlichkeit an.

Auch Befreiungsbewegungen haben früher, in den 1970er und 1980er Jahren, versucht, befreite Zonen zu schaffen und dort eine Gegenstaatlichkeit zu gründen. Insofern folgt diese Miliz einer gewissen Logik, die man braucht, wenn man Macht aufbauen, Macht erhalten und Macht verfestigen möchte. Das kann man nicht wie ein eingetragener Verein machen, da muss man tatsächlich solche Strukturen aufbauen. Das machen sie relativ erfolgreich, und das wiederum bedeutet, dass es nicht ausreicht, diese Gruppe als eine Terrororganisation zu betrachten - was sie natürlich von ihren Verhaltensweisen her oft ist. Aber letztlich ist die IS-Miliz eine Organisation, die Terror benutzt, um ihr eigentliches Ziel zu erreichen, nämlich politische Herrschaft zu etablieren.

In Syrien und im Nordirak bröckeln staatliche Strukturen. Füllt der "Islamische Staat" dieses Vakuum?

Das ist genau der Grund, warum er stark geworden ist. Wenn Sie zum Beispiel an die Situation im Frühsommer denken, als die IS-Miliz in sehr kurzer Zeit große Teile des Nord- und Nordwestiraks erobern konnte: Das lag nicht daran, dass diese Truppe so stark gewesen wäre. Sie war gut organisiert und verglichen mit anderen bedeutsam. Aber eigentlich hat sie diesen Erfolg gehabt, weil der irakische Staat gelähmt war, nicht mehr funktionierte und das irakische Militär sich einfach aufgelöst hat. Die Soldaten der irakischen Regierung haben nicht gekämpft, sondern sind desertiert und nach Hause gegangen, und die IS-Miliz ist eben auf ein Vakuum gestoßen. Wenn der Irak ein funktionierendes Staatswesen gewesen wäre oder wenn es in Syrien ein staatliches Gewaltmonopol gäbe, dann wäre diese Miliz nicht so bedeutsam geworden, wie sie inzwischen ist.

Jochen Hippler ist Politikwissenschaftler und Friedensforscher an der Universität Duisburg-Essen. Sein Fachgebiet ist der Nahe und Mittlere Osten, insbesondere der Umbruch in islamisch geprägten Ländern.

Das Gespräch führte Arnd Riekmann.