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Holocaust-Überlebende Down Under

Silke Bartlick 30. Mai 2015

Über 20.000 Shoah-Überlebende flohen Ende der 1940er nach Australien - eine Tatsache, die in Deutschland weitgehend unbekannt ist. Historikerin Hannah Miska hat Zeitzeugen getroffen und ihre Erinnerungen aufgeschrieben.

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Abfotografiertes Foto der in Melbourne lebenden Holocaust-Überlebenden Kitia Altman (Foto: DW)
Bild: DW/S. Bartlick

Kitia Altman ist eine schöne, in sich ruhende alte Dame. Zumindest auf dem Foto, das an diesem Abend an die Wand der Landesvertretung Sachsen-Anhalts im Berliner Regierungsviertel projiziert wird. Der Saal ist gut gefüllt, das Interesse groß an dem Buch, dass Hannah Miska vorstellen wird: "So weit wie möglich weg von hier. Von Europa nach Melbourne – Holocaust-Überlebende erzählen". Kitia Altman ist eine diese Überlebenden, und wie eine ganze Reihe weiterer jüdischer Männer und Frauen ungarischer, polnischer, litauischer, deutscher, belgischer oder tschechischer Herkunft ist sie nach Ende des Zweiten Weltkriegs nach Australien emigriert und hat sich dort eine neue Existenz aufgebaut.

Ein Zufall mit Folgen

Melbourne ist mit knapp über vier Millionen Einwohnern die zweitgrößte Stadt Australiens. Die Zahl der "Melbournians" hat sich nach 1945 infolge einer heute nicht mehr praktizierten aktiven Immigrationspolitik knapp vervierfacht. Die Migranten kamen nicht nur aus allen Teilen Asiens, sondern auch aus Europa und prägen bis heute das Bild der Stadt. Die in Magdeburg geborene Psychologin Hannah Miska hat von 2003 bis 2010 in Australien gelebt In ihrem dritten Jahr in Melbourne entdeckte sie im jüdischen Viertel der Stadt zufällig ein kleines Hinweisschild auf ein "Jewish Holocaust Centre" und war zunächst überrascht. "Ein jüdisches Holocaust-Museum in Australien?" Sie fand es in einer unscheinbaren Nebenstraße und war erstaunt über die beeindruckende Sammlung von Fotos, Dokumenten und Exponaten, die vom Leben der Juden in Europa erzählen, von Terror, Deportationen, Konzentrations- und Vernichtungslagern, aber auch von mutigen Menschen, die ihr Leben riskiert haben, um jüdische Mitbürger zu retten.

Ausweis für Maisel Falk (Foto: privat)
1945 in Balingen ausgestellter Ausweis für Maisel Falk, angeblich polnischer Staatsangehöriger, Automechaniker aus WilnaBild: privat/Mitteldeutscher Verlag

Ein Foto zeigte zwei junge Mädchen – Zwillinge, an denen der SS-Arzt Josef Mengele seine berüchtigten Experimente ausgeführt hatte. Während Hannah Miska dieses Foto betrachte, kam eine ältere Dame auf sie zu und sprach sie an: "Wenn Sie mehr über diese Mädchen erfahren wollen – ich bin eins von ihnen". Die aus Prag stammenden Zwillinge Stephanie Heller und Annetta Able, so erfuhr Hannah Miska dann, hatten Auschwitz-Birkenau überlebt und waren nach dem Krieg über Prag und Israel beziehungsweise Kenia schließlich nach Australien ausgewandert. So weit wie möglich weg von Europa. Bloß weg, so weit wie möglich - das hatte auch Kitia Altmans Vater seiner Tochter noch kurz vor seinem Tod ausrichten lassen.

Fluchtpunkt Australien

Ob Hannah Miska in diesem Moment schon ahnte, wie folgenreich die Begegnung sein würde? Jedenfalls hat sie kurz darauf angefangen, im Jewish Holocaust Centre Melbourne zu arbeiten. Sie erfuhr, dass wohl nur in Israel mehr Holocaust-Überlebende zu Hause sind als in Australien. Und sie hat viele von ihnen kennengelernt. Nicht zuletzt, weil einige von ihnen ehrenamtlich im Museum arbeiten. Dass sie eine Deutsche ist, spielte keine Rolle, Hass oder Argwohn ist Hannah Miska nie begegnet, sondern vielmehr Vertrauen, aus dem manchmal Freundschaft wurde. Und immer wieder war da die Bereitschaft, zu erzählen. Auch von den schmerzhaftesten Erinnerungen, von lange Verdrängtem, von Zweifeln und Alpträumen.

Teil des Covers von Hannah Miskas Buch (Foto: DW)
Teil des Covers von Hannah Miskas Buch, das im Mitteldeutschen Verlag (Halle) erschienen istBild: DW/S. Bartlick

Sala hat sich 27 Monate mit ihren Eltern und ihrem Bruder in einer in der Erde eingegrabenen Kartoffelkiste versteckt. Die Kiste war etwa drei mal einen Meter groß, man konnte nur gebückt in ihr sitzen. Die polnische Jüdin Sarah nahm eine fremde Identität an und hat als vermeintlich nicht-jüdische Polin in Deutschland Zwangsarbeit geleistet – immer in der Angst, enttarnt zu werden. Lucia wurde mit 12 Jahren nach Auschwitz deportiert und hat dort als eines von wenigen Kindern überlebt. Sie besitzt keine Erinnerungsstücke an ihre Kindheit und quält sich bis heute, weil sie das Gesicht ihres in Auschwitz ermordeten Vaters nicht mehr aus dem Gedächtnis abrufen kann. Und Zsuzi wurde zusammen mit ihrer Mutter in einer Gruppe von Juden und Jüdinnen nackt durch Budapest getrieben, bis an die Donau, wo man auf sie schoss. Zsuzi hat als einzige überlebt.

Leben, Überleben

Insgesamt 17 Portraits sind so entstanden, ganz unterschiedliche Lebensgeschichten, die sich - ergänzt um sachkundige Informationen, etwa über Zwangsarbeit, jüdischen Widerstand, das Leben in der Illegalität, medizinische Experimente oder Todesmärsche - zu einem ebenso klugen wie aufwühlenden Lesebuch über den Holocaust verdichten. Unwillkürlich fragt man sich, woher all diese Menschen die Kraft für einen Neuanfang genommen haben, in einem Land am anderen Ende der Welt, ohne Familie, ohne Freunde, oft ohne Sprachkenntnisse und ohne Geld.

Hannah Miska (Foto: DW)
Rosen von Kitia Altman für ihre Freundin Hannah MiskaBild: DW/S. Bartlick

Kitia Altmans Portrait endet mit einem bemerkenswerten Zitat: "Aber dennoch – ich denke, dass meine Lebensgeschichte eigentlich nicht von Brutalität handelt, sondern in einer seltsamen Weise eine Geschichte tiefer Menschlichkeit ist". An der Präsentation von Hannah Miskas Buch in Berlin konnte sie nicht teilnehmen. Aber irgendwie hat sie dafür gesorgt, dass der Freundin am Ende des Abends ein Strauß bunter Rosen überreicht wird. Hannah Miska hat das kurz die Sprache verschlagen.